„Sehen statt bedeuten wollen“ – Wolfgang Zurborn im Gespräch mit Thomas Berlin über die Kraft des Fotobuchs
Wolfgang Zurborn gehört zu den prägenden Stimmen der deutschen Fotobuchkultur.
Thomas Berlin: Wolfgang, du bist Fotograf und Dozent. Und wenn es um Fotobücher und Fotobuch-Editing geht, dann dauert es nicht lange, bis dein Name fällt. Das heißt: Das Fotobuch ist für dich ein wichtiges Thema – und auch jetzt für unser Interview. Bevor wir uns aber auf das Fotobuch konzentrieren, vielleicht noch mal für den einen oder anderen Leser eine kurze Unterscheidung: Fotobuch versus Bildband.
Wolfgang Zurborn: Beim Begriff „Bildband“ denkt man vielleicht eher an ein Coffee-Table-Book – ein Buch mit schönen Bildern, die ein bestimmtes Thema illustrieren. Ein Fotobuch dagegen ist Ausdruck einer persönlichen Bildsprache. Es ist im künstlerischen Sinn ein eigenständiges Statement. Das Verständnis, dass die Zusammenstellung der Bilder in einem Edit – also in einem Buch – ein Ausdrucksmittel der Fotografin oder des Fotografen ist, ist tatsächlich eine relativ neue Entwicklung.
Früher war es oft so: Ein Verlag bekam Bilder eines bekannten Fotografen, und ein Grafiker brachte sie in Form. Viele Verlage hatten eine Standardgestaltung für ihre Bücher – das Layout war vorgegeben, der Fotograf eher der Bildlieferant. Die Gestalter machten das Buch.
Heute ist es anders. Auch an Hochschulen wird zunehmend vermittelt, dass das Editieren Teil der künstlerischen Arbeit ist. Ein Schriftsteller geht ja auch nicht mit einer Kiste voller Wörter zum Verlag und sagt: „Macht was draus!“ – der bringt seine Worte in eine bestimmte Reihenfolge. So ist es auch mit Bildern: Sie sind Bildsprache. Und genau das möchte ich zum Beispiel in den Workshops mit Markus Schaden oder in meiner Editing Challenge vermitteln.
Thomas Berlin: Dann konzentrieren wir uns jetzt auf das Fotobuch als ein eigenständiges künstlerisches Medium. Aber ist das nicht ein Anachronismus? Wir veröffentlichen unzählige digitale Bilder auf Social Media – jeder Fotograf kann kostenlos so viele zeigen, wie er möchte. Warum ist das Fotobuch nach wie vor wichtig?
Wolfgang Zurborn: Ein Fotobuch ist für mich etwas ganz Besonderes – weil es eine geschlossene Form hat. Auch die Haptik des Buches spielt eine Rolle. Natürlich habe ich nichts gegen E-Books – für die Vermittlung und Verbreitung sind sie oft sehr nützlich. Aber das Objekthafte eines Buches bleibt wichtig: Ich halte es in der Hand, es hat einen festen Einband, und die Inhalte darin folgen einer bestimmten Dramaturgie.
Gerade in einer Zeit, in der wir von Bildern überflutet werden, finde ich das umso wichtiger. Ein Fotobuch zwingt zur Auswahl, zur Konzentration – beim Editieren muss man sich überlegen: Was passiert, wenn zwei Bilder auf einer Doppelseite nebeneinanderstehen? Welche Wirkung entsteht? Das macht das Medium so wertvoll.
Es gibt Kritiker, die sagen: In Zeiten von Instagram, wo Millionen Bilder gepostet werden, könne man Fotografie nicht mehr als Kunstform betrachten. Das halte ich für völligen Unsinn. Wegen Twitter ruft ja auch niemand das Ende der Literatur aus. Es geht bei jeder künstlerischen Form darum, aus der Vielzahl der Möglichkeiten Entscheidungen zu treffen, eine Auswahl zu treffen.
Und das ist heute, in dieser überfordernden Bilderflut, elementar – auch für das eigene mentale Überleben. Die Arbeit am Fotobuch bedeutet: Aus der Masse von Bildern die starken herauszufiltern und zu sehen, wie sie sich zu einem Narrativ verbinden lassen.
Thomas Berlin: Die Auswahl ist ja ein Stück weit auch eine kuratorische Tätigkeit. Was kann ein Fotobuch, was eine Ausstellung nicht kann?
Wolfgang Zurborn: Das sind wirklich zwei ganz unterschiedliche Methoden – und ich liebe beide. Ich habe in meinem Leben Hunderte von Ausstellungen gestaltet, also kann ich nicht sagen, dass mir das eine wichtiger ist als das andere. Ich bin beides: Buchmensch und Ausstellungsmacher.
Aber man darf das nicht einfach übertragen. Man kann nicht sagen: Ich habe eine perfekte Bildabfolge im Buch – ein gelungenes Edit – und hänge die Bilder einfach in dieser Reihenfolge an die Wand. Das funktioniert so nicht. Im Buch sehe ich die Bilder nacheinander. Ich blättere und erfahre sie sequentiell. In der Ausstellung sehe ich alles gleichzeitig. Das ist eine völlig andere Dramaturgie. Die Bilder müssen den Raum definieren – auch einen visuellen Raum.
Und das bedeutet für mich, dass eine Ausstellung mehr ist als nur: alle 20 Zentimeter ein Bild, in einer Reihe an der Wand. Vielmehr geht es darum, mit den Fotografien Wahrnehmungsräume zu schaffen – sie wirken im Raum, sie reagieren aufeinander. Das ist eine völlig andere Erfahrung als die des Blätterns im Buch. Deshalb müssen Buch und Ausstellung auch komplett unterschiedlich kuratiert werden. Wichtig ist mir aber bei beidem: Die Konzepte sollten aus den Bildern heraus entwickelt werden. Die Bilder sind nicht bloß Illustrationen von Konzepten. Es geht nicht darum, ein Konzept mit Fotografien zu bebildern. Sondern: Zuerst kommen die Bilder – starke Bilder – und daraus ergibt sich ein Konzept, das diese unterstützt.
Thomas Berlin: Aus einer deiner Editing Challenges habe ich ein paar Sätze mitgenommen, die mir im Gedächtnis geblieben sind. „Folge den Bildern“ war einer davon.
Wolfgang Zurborn:
Ja, genau. Definitiv. Ich sage auch oft: Listen to the photographs – also „Hör auf die Bilder“. Damit meine ich auch den sinnlichen Aspekt, nicht nur ein logisches, erzählerisches Verständnis.
Oft geht es darum, ein Gefühl für die Bilder zu entwickeln – ihre Wirkung zu erspüren. Manchmal funktionieren paradoxe Kombinationen von Bildern, die nebeneinanderstehen, unglaublich gut für die Betrachter – sie faszinieren, obwohl man gar nicht genau sagen kann, warum. Und das ist gut so.
Ich finde es sogar wünschenswert, wenn man es nicht vollständig versteht. In vielen Ausstellungen hat man das Gefühl: Ich sehe das dritte Bild, verstehe das Konzept – und den Rest muss ich mir eigentlich gar nicht mehr anschauen.
Meine Haltung steht da oft im Kontrast zu vielen anderen Positionen. Ich versuche, eine eigenständige Sichtweise zu formulieren. Ein Beispiel: Studentinnen an der FH Dortmund sagten mir im vierten Semester: „Was wir in deinem Kurs machen, ist das genaue Gegenteil von dem, was wir sonst lernen.“ Ich fragte: „Wie meint ihr das?“ – und sie sagten: „In den anderen Kursen heißt es: Entwickle erst dein Konzept und dann mach die passenden Bilder dazu. Du dagegen sagst: Leg die Bilder auf den Tisch, die dich berühren – und aus der Analyse dieser Bilder entwickeln wir gemeinsam das Konzept.“
Thomas Berlin: Das wird spannend – die Dramaturgie! Aber bevor wir tiefer in die Dramaturgie einsteigen, vielleicht doch noch mal eine grundlegende Frage: Du bist jetzt davon ausgegangen, die Bilder liegen bereits auf dem Tisch, und es geht um die Dramaturgie. Wenn nun aber ein Fotograf erst einmal aus dem Ozean der Möglichkeiten seines Archivs schöpfen muss und sich fragt: Welche 80, 100 oder 120 Bilder von 10.000 kommen überhaupt ins Buch? – Wie gehst du da vor? Was sind deine Auswahlkriterien, unabhängig von der späteren Reihenfolge oder Formaten?
Wolfgang Zurborn: Für mich steht am Anfang immer die Frage: Welche Bilder haben eine eigene visuelle Kraft? Es geht nicht darum, thematisch passende Illustrationen zu finden, sondern darum, Bilder zu identifizieren, die für sich selbst stehen können – die eine visuelle Sprache sprechen, die mich anspringt, die etwas auslösen.
Ich suche nach Bildern, die nicht sofort erklärbar sind, aber trotzdem eine starke Präsenz haben. Und dann schaue ich, wie diese Bilder miteinander in Beziehung treten – was sie im Dialog erzeugen können.
Es ist ein intuitiver Prozess, aber auch ein analytischer. Ich betrachte viele Bilder nebeneinander, spiele mit Kontrasten, Übergängen, Wiederholungen. Wichtig ist mir: Ich will nicht einfach ein Konzept bedienen – ich will Bilder, die mich überraschen.
Und manchmal geht es eben nicht darum, dass ein einzelnes Bild besonders spektakulär ist, sondern dass es im Zusammenspiel mit anderen Bildern eine neue Ebene erzeugt – eine narrative oder emotionale Tiefe. Das ist für mich das Entscheidende bei der Auswahl.
Thomas Berlin: Wie sieht das konkret aus?
Wolfgang Zurborn: Das Auswahlkriterium ist natürlich auch ein intuitives. Das lässt sich nicht rein logisch fassen. Wenn ich etwa in einem Workshop Hunderte von Bildern auf dem Tisch sehe, dann geht es für mich darum, die Schlüsselbilder zu finden – und ich glaube, dass ich diese mit Erfahrung recht schnell erkenne.
Ich sage oft: Man sieht, wenn jemand wirklich etwas gesehen hat. Ich schaue mir ein Bild an und denke: Das hätte niemand anderes in genau diesem Moment so gesehen. Es wirkt wie ein sehr persönliches Statement. Daneben liegen oft Bilder, bei denen man das Gefühl hat: Die wurden gemacht, weil man dachte, „die müssen auch noch dazu“. Bilder, die erklären oder ergänzen sollen – aber oft keine eigene Kraft haben.
Interessanterweise sind es häufig gerade die stärksten Bilder, bei denen die Beteiligten sagen: „Da habe ich mir gar nichts gedacht.“ Und genau das ist das Spannende: Sie haben vielleicht nicht bewusst darüber nachgedacht, sie können es nicht erklären – aber dennoch liegt dieses Bild gedruckt auf dem Tisch. Es hat offenbar eine Bedeutung für sie, auch wenn sie sie nicht in Worte fassen können. Und das ist der Punkt, an dem es persönlich wird.
Thomas Berlin:
Das heißt, du folgst der Intuition – auch wenn die die Auswahl nicht gleich mit einem Konzept unterlegen kann?
Wolfgang Zurborn:
Definitiv. Aber ich würde sagen: Intuition ist auch Erfahrung. Es sind Bilder, die ins Auge springen, und in den Workshops kann ich auch erklären, warum ich gerade dieses Bild stark finde – was da zusammenkommt.
Für die Teilnehmer ist das oft neu, weil man sich klar machen muss: Bildsprache funktioniert anders als Textsprache. Wir leben in einer textdominierten Gesellschaft. Viele machen großartige Bilder, sind aber unglücklich damit, weil sie glauben, sie müssten das alles begründen oder benennen können.
Und genau da setzt der Workshop an: den Teilnehmenden Selbstvertrauen geben, ihnen erklären, was sie da intuitiv machen – und das Ganze ein Stück weit mit Sprache unterfüttern.
“Folge den Bildern. Nicht alles muss sofort erklärt oder verstanden werden – es reicht, wenn es wirkt.”
Thomas Berlin: Wenn du also bei einem Workshop Hunderte Bilder siehst und ein paar davon auswählst – dann kannst du ja nur das beurteilen, was auf dem Bild zu sehen ist. Du weißt in dem Moment ja nicht, was der Fotograf sich dabei gedacht hat. Und das ist auch gut so, oder?
Wolfgang Zurborn: Ja, das ist gut so. Wir müssen lernen, zu sehen, was wir sehen – und nicht zu sehen, was wir denken. Genau das ist die große Chance der Fotografie: dass jemand etwas sieht, das über das Offensichtliche hinausgeht.
Und es ist eben nicht derjenige, der das Bild gemacht hat und dann daneben sitzt und es erklärt. Viel zu oft wird gefragt: „Was hast du dir dabei gedacht?“ – das ist fast schon eine Killerfrage. Denn eigentlich sagt das, was jemand gesehen hat, am meisten aus.
Thomas Berlin: Wenn man ständig fragt: „Was hast du dir dabei gedacht?“, zwingt man den Fotografen ja dazu, etwas Visuelles in Text zu übersetzen. Vielleicht ist aber gerade das Visuelle sein Ausdrucksmittel – und nicht das Wort.
Wolfgang Zurborn: Ja, genau. Deshalb stelle ich diese Frage auch nicht. Ich frage nicht: „Was hast du dir dabei gedacht?“ – das ist nicht meine Herangehensweise. Ich sehe die Bilder und versuche, den Teilnehmenden zu erklären, was sie da eigentlich gesehen haben. Denn ich sehe es in den Bildern. Und ich weiß: Was jemand dazu sagen würde, kommt oft nicht annähernd an das heran, was tatsächlich im Bild steckt.
Ein gutes Beispiel war ein Buchprojekt über eine Reise nach Italien bei einem Workshop mit Markus Schaden – wir waren da sofort auf einer Wellenlänge. Wir sagten sinngemäß: „Gute Nachricht: Du hast starke Bilder. Schlechte Nachricht: Wir müssen das Buch komplett zersägen.“
Denn die Reihenfolge der Bilder – Montag, Dienstag - Rom, Venedig – spielte für das Buch überhaupt keine Rolle. Natürlich könnte es ein sinnvolles Konzept sein, Orte oder Zeitpunkte ins Zentrum zu stellen, aber das war hier nicht der Fall. Und genau das meine ich mit „Listen to the photographs“. Die Bilder schaffen eine Ordnung, die aus der Person selbst kommt – aus dem, was sie wahrnimmt, wie sie die Welt sieht. Was der Fotograf über die Reise sehr positiv erzählte hatte eigentlich nichts mit der wirklichen Aussagekraft seiner Aufnahmen zu tun. Die Bilder waren so, dass man hätte sagen können: Michelangelo Antonioni wäre mit seinen Filmen im Stile eines italienischen Neorealismus dagegen fast noch ein Optimist gewesen. Sein Thema war die innere Entfremdung seiner Protagonisten und genau so waren auch die Fotografien unseres Workshopteilnehmers – düster und kühl. Aber deshalb waren sie gut. Denn was da aus dem Unterbewussten herauskam, konnte der Fotograf gar nicht in Worte fassen und er muss das auch nicht.
Thomas Berlin: Also ist zumindest die chronologische Reihenfolge nicht zwingend ein sinnvolles Gliederungskriterium für ein Fotobuch.
Wolfgang Zurborn: Für mich ist wichtig, dass keine nicht bildimmanenten Kriterien die Reihenfolge bestimmen. Viele orientieren sich automatisch an der zeitlichen Abfolge oder der Logik des Ortes. Das mag in der Dokumentarfotografie Sinn machen, aber für ein künstlerisches Fotobuch ist das oft völlig unpassend.
Man muss sich die Bilder genau anschauen: Was ist da wirklich zu sehen? Womit wird die Geschichte erzählt. In dem Buch über die Italienreise waren die dominierenden Motive Selbstporträts und Stillleben und somit ist die Herausforderung an das Edit der Publikation, diese in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander zu bringen.
Und die Orte? In dem besagten Buch hatten sie keine dokumentarische Funktion. Sie waren eher Seelenlandschaften. Es war vollkommen egal, ob das Bologna oder eine andere Stadt war. Deshalb kann man nicht ein Ordnungssystem über alle Projekte stülpen. Man muss es immer aus den Bildern selbst heraus entwickeln.
In einer Serie, die mit Unschärfen arbeitet, kann ein gestochen scharfes Bild alles zerstören. Umgekehrt wirkt ein unscharfes Bild in einer Reihe dokumentarischer Bilder deplatziert.
Ich suche immer nach den starken, ungewöhnlichen Bildern – nach Bildern, die etwas vom Betrachter fordern. Diese wähle ich zuerst aus. Und dann suche ich die Bilder, die dieses visuelle Narrativ unterstützen.
Thomas Berlin: Das wäre also schon eine Art Struktur: ausgehend von den starken Bildern, ergänzt durch unterstützende – aber nicht rein nach formalen oder grafischen Kriterien.
Wolfgang Zurborn: Ja, nicht nur im grafischen Sinn. Die Gestaltung ist wichtig – aber sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Inhalte.
Ich habe z. B. das Editing für Call it Corona gemacht – ein Projekt mit 89 Fotograf:innen, die während der Corona-Zeit gearbeitet haben. Das war eine echte Herausforderung: all diese unterschiedlichen Positionen zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden. Ich glaube, es hat funktioniert, weil ich das Edit nicht thematisch oder begrifflich aufgebaut habe – sondern aus den Bildern heraus. Ich habe genau auf Mimik, Gestik, Körpersprache geachtet – auf emotionale Zwischentöne. So entstand ein breites Spektrum von Gefühlen.
Viele Fotograf:innen machen starke Bilder – aber wenn sie später versuchen, sie über Begriffe zu verbinden, verlieren die Bilder oft ihre Vielschichtigkeit. Wir sind so konditioniert, alles über Themen und Texte einzuordnen. Aber wenn ich ein Bild sofort mit einem Schlagwort verknüpfe, zerstöre ich oft seine eigentliche Kraft – seine Komplexität, seine poetische Tiefe, auch sein Unterbewusstes.
Thomas Berlin: Für manche Menschen werden Kunstwerke ja sogar langweiliger, wenn man sie sofort versteht.
Wolfgang Zurborn: Absolut. Goethe sagte schon: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“
Für meine Bücher ist das ein zentrales Kriterium: dass sie zusammenhängend wirken, dass sich ein Vertrauen beim Betrachter entwickelt – ein Vertrauen in den Bildfluss.
Man soll das Gefühl haben: Da will mich niemand über den Tisch ziehen. Das ist keine willkürliche Aneinanderreihung, sondern eine Form, die Sinn ergibt – oder auch ein schöner Unsinn. Aber einer, der zusammengehört. Und wenn dieses Vertrauen da ist, dann bleibt man als Betrachter auch dran – auch wenn man nicht sofort versteht, was passiert. Das ist die Kunst: Dass die Betrachtenden neugierig bleiben, immer weiterblättern wollen, weil sie überrascht werden und zugleich genießen.
Thomas Berlin: Aus unserem Gesprächen über mein Buch habe ich noch einen Satz mitgenommen, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist. Du sagtest: Die ersten Bilder bestimmen den Sound des Fotobuchs.
Ich fand das insofern bemerkenswert, weil es zum einen richtungsweisend ist, zum anderen aber, weil du von „Sound“ gesprochen hast obwohl wir ja mit einem visuellen Medium arbeiten. Vielleicht wäre das für die Lesenden hier spannend, wenn du erklärst, was du damit meinst.
Wolfgang Zurborn: Ja, ich arbeite tatsächlich oft mit Begriffen aus der Musik – auch beim Editing. Für mich ist das Buch wie eine Komposition, die einen Rhythmus hat, eine Taktung, eine Atmosphäre.
Der Begriff „Sound“ beschreibt das sehr gut: Es geht um eine sinnliche Abfolge, um ein Gefühl, das durch die ersten Seiten des Buches entsteht. Wenn ich in einem Fotobuch die ersten fünf Doppelseiten gestalte, ist das wie das Schreiben der Ouvertüre. Ich lege damit fest, wie die Bilder zusammenwirken, welche Fantasie sie entfalten, welche Art von Ordnung oder Struktur sie erzeugen.
Wenn das funktioniert – wenn jedes Bild seinen Platz und seine Wirkung hat – dann versuche ich zu verstehen: Was habe ich hier eigentlich gemacht? Und genau daraus entwickle ich dann das Konzept, das den Rest des Buches tragen kann.
Dieses Grundgefühl vermittelt den Lesern auch Vertrauen: Sie spüren, dass da eine klare Linie, eine innere Logik vorhanden ist. Fotografie und insbesondere das Editieren ist für mich ein komplexes Zusammenspiel von Intuition und konzeptionellem Denken.
Thomas Berlin: Wenn die ersten Seiten den Sound des Buches definieren – heißt das dann, dass das Buch keine überraschenden Wendungen mehr nehmen darf?
Wolfgang Zurborn: Nein, ganz im Gegenteil! Gerade deswegen spreche ich von Taktung und Rhythmus – und nicht von einem fixen inhaltlichen Schema.
Wie in der Musik auch: Der Takt bleibt spürbar, aber es gibt Variationen, Spannungen, Brüche. Das kann und soll es auch im Fotobuch geben. Diese Grundprinzipien – Rhythmus, Bildabfolge, Kontraste – gelten für mich unabhängig vom Genre. Egal ob dokumentarisch, experimentell oder abstrakt: Ich achte darauf, wie die Bilder zusammenwirken.
Ein Beispiel: Auch das Spiel mit verschiedenen Bildformaten – eine Doppelseite im Anschnitt, dann zwei kleine Bilder nebeneinander – erzeugt Rhythmus. Der Wechsel von Formaten kann das Tempo, die Intensität oder die Wahrnehmung beeinflussen.
Aber auch hier gilt: Alles hängt vom Bildmaterial ab. Bei einer Serie wie den Becher’schen Fördertürmen wäre ein Wechsel der Formate völlig kontraproduktiv. Diese typologischen Reihungen leben davon, dass alles gleich groß, neutral, sachlich bleibt – um Vergleiche zu ermöglichen.
Bei assoziativen, eher poetisch aufgebauten Serien hingegen kann es genau umgekehrt sein: Da wäre es sogar störend, wenn alle Bilder gleich behandelt würden. Da braucht es Vielfalt – im Format, in der Positionierung, in der Dramaturgie.
Thomas Berlin: Bei seriellen Werken wie die der Bechers – oder auch August Sanders Porträts – würdest du ein einheitliches Erscheinungsbild beibehalten. Aber bei sequentiellen Erzählformen setzt du eher auf Kontraste, Überraschungen, unterschiedliche Gestaltungsebenen?
Wolfgang Zurborn: Genau. Es geht immer darum zu spüren: Welche Erzählform passt zu diesem Bildmaterial?
Was unterstützt die Bildsprache? Was bringt sie zum Klingen? Lange Zeit war in Deutschland diese serielle, strenge Reihung im gleichen Format fast wie ein Dogma. In vielen Hochschulen war das Standard. Ich fand das immer problematisch – nicht, weil es an sich schlecht wäre, sondern weil es zur Norm wurde. Während in anderen Ländern viel experimenteller gearbeitet wurde haben, war hier oft alles gleichförmig.
Mir ist wichtig, alle Herangehensweisen zu respektieren. Es gibt nicht „den einen richtigen Weg“. Für manche funktioniert das Serielle, für andere die freie, assoziative Form. Ich will keine Ideologie daraus machen. Jeder muss seinen eigenen Zugang finden – und dafür braucht es ein Klima der Offenheit und Wertschätzung.
Thomas Berlin: Wenn du jetzt ein Buch mit einer Bildabfolge siehst – manche Bilder sind groß, andere klein –, würdest du dann die kleineren Bilder, weil man sie sich genauer anschauen muss, eher als die wichtigeren wahrnehmen? Oder ist es umgekehrt?
Wolfgang Zurborn: Tatsächlich denken viele: Die großen Bilder sind die wichtigsten – und die kleinen nur „Beifang“. Aber das ist zu kurz gedacht. Es wäre völlig unsinnig zu sagen: Groß gleich wichtig, klein gleich unwichtig. Oft ist es sogar so, dass ein kleineres Bild im weißen Rahmen, auf der rechten Seite einer Doppelseite, mehr Aufmerksamkeit bekommt als das große Vollformat links.
Durch den Rahmen wirkt es hervorgehoben, beinahe wie zitiert. Aber grundsätzlich geht es bei der Formatwahl nicht um eine Hierarchie im Sinne von „wichtiger“ oder „besser“, sondern darum, wie die Bilder miteinander wirken.
Wenn du auf einer Doppelseite ein starkes, direktes Porträt im Großformat hast – sagen wir links – und rechts ein Bild, das eher den Raum um die Person herum zeigt, dann solltest du das nicht automatisch kleiner anlegen. Sonst wird es nebensächlich oder geht unter. Dann kannst du es auch gleich weglassen.
Ein starkes Porträt kann auch im kleineren Format wirkungsvoll sein – entscheidend ist die Balance auf der Doppelseite. Die Bilder sollen sich gegenseitig stützen, nicht überlagern. Das ist wie in einer guten Beziehung: Beide Seiten haben ihre eigene Stärke – und im Idealfall intensivieren sie sich gegenseitig.
Thomas Berlin: Mit „unterstützen“ meinst du vermutlich nicht: ergänzen im Sinne von „noch mehr Information liefern“? Ich denke da an ein Beispiel aus einem Buch von Rinko Kawauchi – sie stellt sehr unterschiedliche Bilder nebeneinander, aber es sieht einfach stark aus, weil sie visuell zusammenpassen.
Wolfgang Zurborn: Ja, Rinko Kawauchi ist großartig – sehr assoziativ, sehr fantasievoll. Genau das meine ich: Unterstützung bedeutet nicht Erklärung. Es geht nicht darum, dass das eine Bild das andere „verständlich“ macht.
Es kann sogar genau das Gegenteil sein – Widerspruch, Reibung, Spannung. Manchmal ist es ein kleines Detail, das eine Seite trägt – eine Berührung, ein Blick.
Im Call it Corona-Projekt gab es z. B. eine Doppelseite mit Bildern aus einem Krankenhaus. Auf einem davon hält ein Arzt einem Patienten die Hand – ein berührender Moment. Die anderen Bilder auf der Seite waren so angeordnet, dass sie diese Geste verstärken. Alle zeigten Hände, Gesten, Berührungen – ohne dass das plakativ war. Es ging nicht darum, „mehr Krankenhaus“ zu zeigen, sondern durch Gestaltung die emotionale Kraft sichtbar zu machen. So wird jedes Detail sprechend – und das Zusammenspiel der Bilder erzeugt eine tiefere, emotionalere Wahrnehmung.
Gestaltung wird so zum Träger des Inhalts – nicht zum Selbstzweck.
Thomas Berlin: Wir haben jetzt über viele Aspekte gesprochen, die man berücksichtigen sollte. Gibt es aus deiner Erfahrung auch Dinge, die häufig falsch gemacht werden – typische Fehler, die man vermeiden sollte?
Wolfgang Zurborn: Oh ja, definitiv. Einer der Hauptfehler ist: nach „Gleichem“ zu suchen.
Wenn man einen Wust an Bildern hat, dann entsteht oft der Reflex, zwei ähnliche Bilder nebeneinanderzustellen – weil man denkt, das passe. Ein Beispiel: Beim Buch elf Uhr elf über den Kölner Karneval – gemeinsam mit neun Fotograf*innen – wollten wir zuerst jedem ein eigenes Kapitel geben. Neun Kapitel, neun Bildserien. Das interessierte aber niemanden.
Außerhalb Kölns ist Karneval eh schwierig zu vermitteln, und in Köln fragt man sich: Warum jetzt anders? Das Konzept ging nicht auf. Es wirkte wie ein klassischer Ausstellungskatalog – und nicht wie ein lebendiges Fotobuch. Wir merkten: Wir müssen die Serien mischen, neue Verbindungen schaffen. Zuerst wollten wir es zu neunt am Tisch editieren – völlig unmöglich. Also erstellte ich einen Entwurf, machte viele Doppelseiten, stellte sie zur Diskussion. Und das funktionierte.
In einer Dropbox gesammelte Vorschläge für Doppelseiten folgten fast immer dem gleichen Prinzip: rote Nase neben roter Nase – Uniform neben Uniform. Ich sage dann: „Wir haben alle zu viel Memory als Kind gespielt.“ Im Memory gewinnst du, wenn du zwei gleiche Karten findest. Im Fotobuch verlierst du dabei. Wenn zwei ähnliche Bilder nebeneinanderstehen, dann sieht man nur noch die Gemeinsamkeit.
Vielleicht ist das eine Bild witzig, das andere traurig – aber diese Unterschiede gehen unter, weil das Offensichtliche dominiert. Und dann ist das Sehen für den Betrachter erledigt. Das Interesse versiegt.
Thomas Berlin: Das heißt: Offensichtliche Gleichheit führt dazu, dass man spannende Details weniger wahrnimmt?
Wolfgang Zurborn: Genau. Der Betrachter wählt – ganz automatisch – die einfachste Lösung. Das ist kein Zeichen von Faulheit, sondern ein Wahrnehmungsgesetz. Unser Gehirn ist auf Mustererkennung trainiert. Wenn zwei Bilder auf den ersten Blick gleich wirken, dann reduziert sich der Blick auf diese Ähnlichkeit. Die Tiefe geht verloren.
Thomas Berlin: Also: Fotobuchgestaltung ist kein Memory.
Wolfgang Zurborn: Absolut. Das wäre ein schöner Titel fürs Interview!
Und es trifft den Kern. Ein weiterer häufiger Fehler ist auch, dass viele vom Text ausgehen – die Bilder dann bloß als Illustration sehen. Oder sie glauben: Wenn ich hundert tolle Bilder habe, wird das Buch hundertmal so gut wie mit einem starken Bild. Aber das funktioniert nicht.
Ein Fotobuch ist nicht einfach eine Sammlung starker Einzelbilder. Es lebt vom Zusammenwirken – von den Beziehungen zwischen den Bildern.
Ein anderes Problem ist das sogenannte Potpourri – ein Sammelsurium starker, aber völlig unverbundener Bilder. Die sehen toll aus, aber wirken zusammen nicht. Dann klappt der Leser das Buch zu. Und das war’s.
Thomas Berlin: Es macht dann einfach keinen Spaß, weiterzublättern. Ich kenne solche Bücher von teils sehr guten Fotografen.
Wolfgang Zurborn: Man kommt nicht mehr rein, weil man nicht geführt wird.
Bei Wettbewerben wie dem „Dummy Award“, wo man Hunderte Buchentwürfe durchgeht, sieht man schnell: Bücher, die völlig chaotisch sind und keine lesbare Struktur bieten, fallen direkt raus.
Dann gibt es die anderen: extrem aufgeräumt, konzeptionell durchdacht – was zunächst angenehm ist im Vergleich zum Chaos, aber oft auch akademisch und langweilig wirkt.
Und schließlich gibt es die Bücher, bei denen man spürt: Da hat jemand seine eigene Bildsprache wirklich verstanden – und daraus eine neugierig machende, persönliche Form geschaffen. Das sind für mich die besten.
Thomas Berlin: Du hast vorhin auch über Texte gesprochen – speziell über Bilder als Illustration oder in Verbindung mit Text. Mir geht es in Fotoausstellungen oft so: Unter den Bildern steht ein erklärender Text. Ich versuche, ihn zu ignorieren, lese ihn dann doch – und ärgere mich manchmal, weil er mir etwas vorwegnimmt. Wie siehst du das Verhältnis von Text und Bild im Fotobuch?
Wolfgang Zurborn: Das ist ein super spannendes Thema. Für mich ist ganz entscheidend: Der Text darf die Bilder nicht erklären.
Ein häufiger Fehler ist, dass jemand sagt: „Verstehst du nicht? Steht ja im Text.“ Dann denke ich: Hallo?! Das funktioniert doch nicht. Ich schaue aufs Bild, verstehe es nicht, lese den Text, und dann soll das Bild plötzlich „funktionieren“? So geht das nicht.
Das Verhältnis von Text und Bild muss ein anderes sein – eines auf Augenhöhe. Ein gutes Beispiel ist für mich das Buch Buzzing at the Sill von Peter van Agtmael über Amerika im Krieg. Großartige Bilder aus unterschiedlichsten Kontexten im öffentlichen und privaten Raum, sehr durchmischt. Das Edit ist fantastisch.
Im Buch selbst gibt es keine erklärenden Texte unter den Bildern. Am Ende jedoch findet man ein ausklappbares Textheft – mit persönlichen Erzählungen zu jedem Bild. Das kann man später lesen, wenn man möchte. Diese Lösung finde ich ideal: Erst kommunizieren die Bilder miteinander – dann kann man, wenn man will, die Texte dazu entdecken.
Sobald ich anfange, parallel zum Schauen zu lesen, reißt mich das aus der Bildwahrnehmung. Der Text verhindert dann oft, sich richtig auf die Fotografien einzulassen.
Thomas Berlin: Ungewöhnlich war das Thema Text auch bei Michael Schmidts Waffenruhe, oder?
Wolfgang Zurborn: Ja, genau. Da war mitten im Buch ein literarischer Text von Einar Schleef – auf einer ganzen Seite, gesetzt wie ein Bild. Der Text erklärt nicht, aber er unterstützt durch seine Haltung, seine Stimmung, das Lebensgefühl, das die Fotografien von Michael Schmidt vermitteln.
Ich habe in meinem Buch Catch auch Texte von Ror Wolf aufgenommen – aus dem Bereich des Nouveau Roman. Seine collagierte, fragmentierte Wahrnehmung der Welt passte perfekt zu meiner Bildwelt.
Wichtig ist, dass der Text keine Erklärung ist, sondern dass er in Stimmung, Rhythmus oder Haltung eine Verbindung mit den Bildern eingeht. In den 1980er- und 90er-Jahren war das anders: Da mussten Texte oft die Legitimation liefern, dass Fotografie auch Kunst ist – meist von Kunsthistorikern geschrieben, kunsttheoretisch eingeordnet. Heute sehen wir zum Glück vielfältigere Formen des Zusammenspiels von Text und Bild. Ich bin kein Gegner von Text – im Gegenteil. Bei meinem letzten Buch Play Time habe ich Zitate über und von Jacques Tati eingebaut – als Bezugspunkt, als Resonanzraum für die Bilder.
Hätte ich dort journalistische oder soziologisch-zeitkritische Texte daneben gesetzt, hätte das den „Spirit“ der Bilder zerstört. Der Ton, das Level, auf dem der Text mitschwingt, muss stimmen. Dann kann er die Wahrnehmung sogar erweitern.
Thomas Berlin: Du hattest eingangs auch von Haptik gesprochen – das bringt uns zur Materialität des Fotobuchs. Das ist ja ein im Wortsinne greifbarer Unterschied zur digitalen Form. Welche Trends beobachtest du aktuell beim Format oder beim Material?
Wolfgang Zurborn: Wenn man sich z. B. die Einreichungen bei Dummy Awards anschaut, sieht man deutlich: Es wird experimenteller. Man geht zunehmend weg von der klassischen Buchform – also Hardcover mit Standardbindung. Stattdessen sieht man häufiger offene Bindungen oder Schweizer Broschur, was ich persönlich sehr angenehm finde.
Wir haben das beim Call it Corona-Buch ebenfalls so gemacht: Hardcover, aber mit offener Bindung – für bessere Haptik und ein gutes Aufschlagverhalten.
Ein anderer interessanter Trend ist, dass Bilder heute oft bewusst über die Mittelfalz laufen. Früher war das ein No-Go – besonders bei Querformat-Bildern: „Bloß keine Falz durchs Bild!“ hieß es.
Ich mache z. B. ein neues Buch mit Massenszenen. Würde ich da zwei Bilder pro Doppelseite zeigen, würden sie sich visuell gegenseitig zerstören. Also wähle ich ein Hochformat-Buch, das die Querformate über die Falz hinweg zeigt.
Thomas Berlin: Das macht auch Peter Bialobrzeski mit seinen Diaries. Ebenfalls Hochformat und Querbilder über die gesamte Doppelseite. Durch die Schweizer Broschur wirkt die Falz weniger störend.
Wolfgang Zurborn: Ja, genau – oder auch Birte Kaufmann bei ihren detailreichen Bildserien.
Das Hochformat mit überlaufenden Querbildern erlaubt eine Verdichtung. Du schlägst das Buch auf und siehst ein Bild, auf das du dich einlassen kannst. Natürlich hängt das auch vom Konzept ab – bei anderen Projekten funktioniert das nicht. Wenn man etwa viele Bilder pro Doppelseite braucht, geht das nur mit durchdachter Komposition.
Und dann spielt natürlich auch das Papier eine große Rolle.
Thomas Berlin: Ich wollte mein Buch ursprünglich auch auf ungestrichenem Papier machen – wegen der Haptik. Aber nach dem Andruck war klar: Ich nehme gestrichenes Papier.
Wolfgang Zurborn: Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Offenes Papier galt lange Zeit als das „authentische“, „künstlerische“ Medium – weil glänzendes Papier sofort an Werbung erinnert. Aber bei offenem Papier ist es schwer, Brillanz zu erzielen. Manche Bildwelten profitieren davon, andere verlieren.
Beim elf Uhr elf Buch über den Kölner Karneval wollten einige unbedingt offenes Papier. Wir standen drei Stunden an der Druckmaschine, um Brillanz zu erzeugen – vergeblich. Der Drucker meinte dann irgendwann: „Mit diesem Papier geht das einfach nicht.“
Also ja – auch Papierwahl ist ein zentrales Gestaltungsmittel. Ein tolles Bild kann auf dem falschen Papier ganz untergehen. Man muss das Buch in die Hand nehmen und sofort denken: Ja! – Das spricht mich an, das fühlt sich gut an. Und genau deshalb wird heute auch mehr Wert auf Materialität gelegt.
Thomas Berlin: Hast du schon ein Buchcover aus Balsaholz gehabt?
Wolfgang Zurborn: (lacht) Nein – aber ich liebe es, zu experimentieren. Grundsätzlich finde ich solche Ideen spannend. Aber für mich bleibt zentral: Es geht um die Fotografie. Das Edit, der Entwurf, das ganze Buch muss die Bilder zum Sprechen bringen.
Sie dürfen nicht bloß als Illustrationen für grafische Konzepte herhalten – oder für politische Botschaften. Natürlich gibt es verschiedene Strömungen: Einige setzen stark auf klassische Formen, andere auf radikale Materialexperimente. Manchmal fragt man sich bei Fotobuch-Festivals, ob es überhaupt noch um Fotografie geht – oder nur noch um Gestaltung.
Thomas Berlin: Kommen wir auf Thema E-Book zu sprechen.
Wolfgang Zurborn: Es gab mal diese Phase, in der viele dachten: E-Books sind die Zukunft. Auch Markus Schaden war da sehr begeistert – weil man sie leicht verbreiten konnte, keine Transportkosten hatte, überall verfügbar waren. Aber der Markt dafür hat sich nie wirklich entwickelt. Die Akzeptanz fehlt bis heute. Ich glaube, der Mensch will das Objekt in der Hand halten – das Buch als Gegenstand erleben.
Thomas Berlin: Die Haptik ist wichtig.
Wolfgang Zurborn: Ja, definitiv. Dieses sinnliche Moment – ich nehme das Buch in die Hand, blättere darin – das ist für mich essentiell. Ich lasse gerade viele Publikationen drucken und es ist immer wieder ein Erlebnis, wenn man das fertige Objekt dann in Händen hält.
Thomas Berlin: Als Käufer oder Sammler nehme ich den Fotobuchmarkt dreigeteilt wahr:
Neben Verlagen gibt es eine Reihe von Autoren im Eigenverlag, die erstaunlich erfolgreich sind, was Stückzahlen angeht. Zu den erfolgreichsten dürften Andreas Jorns, Simon Bolz, J. Konrad Schmidt gehören – da reden wir über Auflagen von um die 500-1.200 Exemplare. Und schließlich die selbstverlegten Bücher mit kleineren Auflagen von teilweise nur 20 bis 100 Stück.
Warum tut sich das künstlerische Fotobuch – gerade in diesen kleinen Auflagen – oft so schwer? Liegt es am Preis der daran, dass es einfach zu viele Fotografen gibt, die gerne ein eigenes Buch machen wollen?
Wolfgang Zurborn: Das hat mehrere Gründe. Einerseits ist es heute technisch viel einfacher, Bücher herzustellen. Auch kleine Auflagen lassen sich in hoher Qualität zu moderaten Preisen produzieren. Ich lasse selbst bei kleinen Druckereien drucken – und bekomme ein hochwertiges Buch, auch bei nur 100 Exemplaren. Früher war das unvorstellbar. Das heißt: Es gibt eine große Produktvielfalt – aber die Anzahl der Fotobuchkäufer wächst nicht im gleichen Maß mit. Die Szene ist relativ konstant, aber das Angebot explodiert.
Früher wurden im Jahr wenige Fotobücher veröffentlicht. Ich erinnere mich an eine Ausstellung in den Deichtorhallen (Eyes on Paris), da war ein poetisches Buch über Paris zu sehen – Auflage: 150.000 Exemplare! Heute undenkbar.
Heute bringt jeder Verlag Dutzende Titel pro Jahr heraus. Und oft heißt das: Der Fotograf zahlt selbst. Der Verlag stellt für das Projekt um die 30.000 € in Rechnung – ohne eigenes Risiko. Damit ist der Fotograf eigentlich auch der Verleger. Und da die Verkaufszahlen überschaubar bleiben, ist dieses Modell in vielen Fällen das einzige wirtschaftlich tragfähige.
Daraus ergibt sich auch der Trend zum Self-Publishing – und das ist heute ganz anders konnotiert als früher. Früher war Self-Publishing ein Makel: „Der hat keinen Verlag gefunden.“ Heute gibt es eigene Kategorien bei Wettbewerben – beim Deutschen Fotobuchpreis ist Self-Publishing ein Hauptbereich. In manchen Wettbewerben sind ein Drittel der Preisträger selbstverlegte Titel.
Stephen Gill hat schon 40 Fotobücher im eigenen „Nobody“-Verlag publiziert und ist sehr erfolgreich damit. Das inspiriert, es vielleicht auch selbst so zu versuchen. Wenn man ein gutes Netzwerk hat und online präsent ist, funktioniert auch die Verbreitung gut. Ich habe meine letzten Bücher z. B. über Crowdfunding oder Direktverkäufe per E-Mail finanziert – 200–250 Vorbestellungen und der Verkauf von Prints für rund 10.000 € – damit war die Produktion gedeckt.
Ein Verlag bleibt dennoch hilfreich, vor allem für die Distribution.
Thomas Berlin:
Du möchtest also nicht jeden Abend zur Packstation laufen …
Wolfgang Zurborn:
Ganz genau. Da habe ich keine Lust drauf. Insofern ist ein Verlag weiterhin sinnvoll – aber er verkauft eben auch keine großen Mengen mehr.
Große Auflagen sind selten. Man rechnet heute eher mit 600 bis 800 Exemplaren – früher waren es Tausende. Und obwohl es an den Hochschulen stark gefördert wird, und auch Wettbewerbe wie der Dummy Award für große Sichtbarkeit sorgen, wächst der Markt nicht mit. Das ist das Dilemma.
Thomas Berlin:
Gute Zeiten immerhin für Fotobuchsammler. Und wenn man in noch kleineren Auflagen denkt – Auflagen von 20 bis 50 Stück – dann sprechen wir über Künstlerbücher. Die Haptik wird da noch wichtiger. Was hältst du von solchen Ansätzen?
Wolfgang Zurborn: Ich finde das großartig. Gerade in Workshops empfehle ich das oft: Solche Bücher leben davon, dass sie als besondere Objekte wahrgenommen werden – sei es als Leporello, mit beigelegtem Print, als nummerierte Edition. Das erlaubt auch einen höheren Verkaufspreis – ein Kunstobjekt für einige Hundert Euro.
Aber man braucht ein Publikum. Es reicht nicht, wenn nur Nachbarn oder die Familie das Buch sehen. Ohne Sichtbarkeit – z. B. über Instagram oder eine eigene Website – wird es schwierig.
Thomas Berlin: Da gibt’s teilweise ja auch handgebundene Unikate.
Wolfgang Zurborn: Wunderbar! Ich liebe solche Dinge.
Thomas Berlin: Welches Künstlerbuch hat dich zuletzt begeistert?
Wolfgang Zurborn: In einem meiner Seminare haben wir mit Jackie Bayer ein Leporello entwickelt, das als Form super funktionierte – das war ein richtig starkes Projekt.
“Wenn ich ein Bild sofort mit einem Schlagwort verknüpfe, zerstöre ich oft seine eigentliche Kraft – seine Komplexität und seine poetische Tiefe.”
Thomas Berlin: Welche Entwicklung würdest du dir für die Fotobuchkultur in nächster Zeit wünschen?
Wolfgang Zurborn: Ich wünsche mir, dass das Interesse an der Fotobuchkultur weiter wächst – und dass die Vermittlung dieser besonderen Form intensiver betrieben wird. Ich merke dass da ein echtes Interesse besteht – dass die Menschen offen sind für diese Art, mit Bildern zu arbeiten.
Es geht dabei um viel mehr als nur Abbildung. Das Fotobuch bietet einen Raum für Imagination, Abstraktion, Dokumentation – es ist ein einzigartiges Medium. Was ich mir wünsche, ist eine Entwicklung, in der experimentelle Bildsprachen stärker mit dokumentarischen Perspektiven verschmelzen. Also weg von den alten Formen des Dokumentarischen, hin zu frischen Erzählweisen, die das Komplexe, das Mehrdeutige zulassen.
Wenn ich mir die letzten Wettbewerbe anschaue, dann sehe ich manchmal auf der einen Seite Bücher, die völlig konventionell daherkommen – und auf der anderen Seite reine Formexperimente, die keine inhaltliche Tiefe mehr haben. Mein Wunsch wäre: eine Verbindung aus Experiment und gelebter Weltsicht. Bücher, die unser Leben reflektieren – aber auf neue, bildstarke Weise.
Und natürlich: mehr Kommunikation darüber. Denn nur, wenn wir über diese Entwicklungen sprechen, können sie sich auch etablieren.
Thomas Berlin: Du hast ja sehr viele Fotobücher gesehen – und gestaltet. Gibt es ein oder zwei Bücher, die dich ganz besonders beeindruckt haben? Es können auch ältere sein.
Wolfgang Zurborn: Ein Meilenstein für mich ist nach wie vor Waffenruhe von Michael Schmidt. Es hat sich radikal von der klassischen Dokumentarfotografie abgesetzt – hin zu einer subjektiveren Bildsprache.
Sehr beeindruckt haben mich auch die Bücher von Daidō Moriyama. Sie treiben das Theatralische, das Absurde, das Fragmentierte auf die Spitze. Großartig.
Alex Webb ist für mich als Fotograf natürlich auch eine wichtige Figur. Nicht alle seine Bücher funktionieren gleich gut, aber sein Haiti-Buch fand ich auch gestalterisch sehr stark. Da geht es um Narration, um Sequenzen, um zeitliche Entwicklungen. Er zeigt dort den Verlauf eines Bürgerkriegs – vor, während und danach. Das erfordert eine klare Struktur in der Bildabfolge.
Von zeitgenössischen Publikationen hat mich die Publikation „The Island of the Colorblind“ von Sanne De Wilde beeindruckt – eine sehr schöne Gestaltung, ein komplexes Layout, das wunderbar funktioniert.
Oder auch The World from My Front Porch von Larry Towell. Larry Towell ist Magnum-Fotograf. In dem Buch bringt er etwas zusammen, was man sonst kaum sieht: den konzeptionellen, journalistischen Zugang und seine ganz persönliche, private Welt. Er zeigt nicht nur Konflikte und Kriegsgebiete, sondern auch sein eigenes Zuhause, seine Familie.
Das alles innerhalb eines Buches – in einem Spannungsfeld, das man selten sieht. Diese Kombination aus dem Öffentlichen und dem Privaten, aus Analyse und Empfindung, fand ich extrem gelungen.
Thomas Berlin: Das sind ganz unterschiedliche Stimmungen, die in solchen Büchern zusammenkommen.
Wolfgang Zurborn: Ja, genau – und gerade das finde ich so großartig. Diese Vielfalt an Ansätzen und Stimmungen ist für mich immer besonders spannend.
Thomas Berlin:
Wo hältst du eigentlich deine Vorträge über Fotobücher?
Wolfgang Zurborn:
In meinem eigenen Seminar in Köln – das ist ein sechsmonatiges Programm. Wir arbeiten dort vor allem an den Portfolios der Teilnehmenden, die am Ende auch einen eigenen Katalog herausbringen. Nachmittags halte ich ergänzend Vorträge zu unterschiedlichen fotografischen Genres: Street Photography, Porträt, Dokumentation, Inszenierung – je nachdem, was zur jeweiligen Gruppe passt.
Gegen Ende geht es dann auch konkret ums Editing. Ich zeige dort Bücher z. B. von Joel Sternfeld.
Thomas Berlin: Joel Sternfeld hat mich sogar dazu gebracht, auf die Highline zu gehen – weil ich die stillgelegte Hochbahn in Manhattan aus seinem Buch kannte.
Wolfgang Zurborn: Sternfeld hat auch großartige Vorträge gehalten. Die amerikanischen Fotografen können oft sehr gut über ihre Arbeit sprechen. In meinen Vorträgen zeige ich dann z. B. auch, wie sich Buchkonzepte unterscheiden: bei Sternfeld etwa ganz klassisch detailreiche Bilder in einem großformatigen Querformat einzeln auf einer Doppelseite mit Bildlegende auf der weißen Seite daneben – bei Waffenruhe von Michael Schmidt dagegen die Kombination aus Porträt und urbaner Struktur. Die abgeranzte Berliner Stadtlandschaft trifft dort auf expressive Porträts – atmosphärisch ähnlich, aber in der Haltung völlig unterschiedlich. Das hat mich fasziniert – vor allem, weil Schmidt vorher eine sehr distanzierte Position hatte: „Die Kamera macht das Bild, nicht ich.“ Und dann dieser Schwenk zu einer fast radikal subjektiven Sichtweise.
Ganz anders bei Daidō Moriyama. Bei ihm gehen die Bilder in den Anschnitt – keine Ränder, keine Begrenzung. Das bedeutet: Die Welt geht weiter. Er will sie nicht anhalten.
Das ist eine komplett andere Haltung als bei der Becher-Schule, bei der alles kontrolliert und vergleichbar bleiben soll. Und daran sieht man: Die Gestaltung – Anschnitt oder nicht, Weißraum oder nicht – transportiert eine Haltung zur Welt.
Thomas Berlin: Also bei Moriyama ist Gestaltung eigentlich eine Haltungsfrage?
Wolfgang Zurborn: Ja, ganz eindeutig. Und das versuche ich in meinen Seminaren zu vermitteln. Das ist etwas, das man in der Schule oft nicht lernt. Wir lernen die Grammatik der Sprache – aber nicht die der Bilder. Und dabei ist Bildkompetenz in unserer Zeit doch so entscheidend.
Thomas Berlin: Gerade heute, wo Bilder einen so massiven Einfluss nehmen.
Wolfgang Zurborn: Total. Aber wir sind da oft noch erschreckend naiv. Moholy-Nagy hat vor über 100 Jahren gesagt: Der Analphabet der Zukunft ist der, der keine Bilder lesen kann. Und er hatte völlig recht – wahrscheinlich sogar noch mehr für unsere Gegenwart als für seine eigene.
Thomas Berlin: Auch wenn ich jetzt springe: Braucht man zum Fotografieren ein Thema?
Wolfgang Zurborn: Wenn ich zum Beispiel in Indien fotografiere, dann werde ich sofort gefragt: Was ist dein Thema? Dabei denke ich: Nein – ich sauge das städtische Leben erst einmal auf. Ich bin da, ich beobachte. Ich will nicht Indien erklären. Ich finde es anmaßend, dort ein „kritisches“ Projekt zu inszenieren. Das wäre doch eine postkoloniale Geste.
Aber die Erwartung ist oft, dass man ein klar definiertes Thema liefern muss. Das erzeugt Unsicherheit – viele glauben, sie müssen sich „rechtfertigen“. Dieser Druck, alles einem Konzept unterzuordnen, kann sehr lähmend sein.
Thomas Berlin: Du meinst also: Offen fotografieren – ohne vorher alles in ein Konzept zu pressen?
Wolfgang Zurborn: Genau. Ich sage: Sehen statt bedeuten wollen. Wenn ich durch indische Großstädte laufe, dann will ich nicht gleich alles kategorisieren – sondern wahrnehmen, staunen, beobachten.
Die Haltung zeigt sich dann in den Bildern – durch Komposition, durch Humor, durch Emotion, durch ästhetische Intensität. Viele Fotografen trauen sich das aber gar nicht mehr. Sie haben gelernt: Erst das Konzept, dann die Bilder.
In Dortmund haben mir Studierende gesagt: Was du machst, ist das genaue Gegenteil von dem, was sonst verlangt wird. Und ja – ich sage: Schmeißt die Bilder auf den Tisch. Zeigt, was euch berührt. Und daraus entwickeln wir dann das Konzept. Alle sagen dann: Endlich macht es wieder Spaß. Der Frust ist sonst groß, weil man seine subjektive Wahrnehmung nicht einbringen darf.
Dann soll man sich ein Thema suchen, das schon fünfmal durchgekaut wurde – und soll das irgendwie neu bebildern. Ich glaube, keiner der wirklich interessanten Fotografen der Geschichte ist so vorgegangen. Gary Winogrand? Lee Friedlander? Die sind doch nicht mit einem Konzeptpapier losgezogen. Aber genau das wird heute an vielen Hochschulen gelehrt – und das halte ich für ein Missverständnis.
Thomas Berlin: Neulich sprach ich mit einem erfolgreichen Fotografen, der keine akademische Ausbildung hatte. Er meinte, er hätte sich einmal bei einem Tag der offenen Tür an einer Hochschule umgesehen – und danach beschlossen, nicht zu studieren. Seine Begründung: Er hatte Angst, dass er danach so fotografieren würde wie die Absolventen dieser Hochschule.
Wolfgang Zurborn: Ja, das kann ich total nachvollziehen. Das ist wirklich ein Punkt.
Es gibt diese Geschichte – ich war nicht selbst dabei, aber sie ist gut dokumentiert – als Garry Winogrand einmal nach Essen in die Hochschule eingeladen wurde. Der war ja ein fotografischer Triebtäter, ein Getriebener, der durch die Straßen zog, alles aufsaugte, die Welt mit der Kamera erkundete.
Und dann traf er dort auf die deutschen Konzeptualisten. Sagen wir so: Das war kein harmonisches Aufeinandertreffen. Ich glaube, es herrschte völliges Unverständnis. Winogrands Buch Women Are Beautiful wurde ihm dort sogar als frauenfeindlich ausgelegt – wobei der Text im Buch von einer der bekanntesten amerikanischen Feministinnen stammt. Aber das wurde wohl übersehen.
Diese Verkopftheit, dieser Mangel an Offenheit, das ist schon schwierig. Natürlich habe ich auch ein Konzept hinter meinen Arbeiten – ich könnte stundenlang darüber sprechen –, aber beim Fotografieren selbst will ich staunen. Ich will morgens nicht wissen, was ich nachmittags fotografieren werde. Ich möchte überrascht werden.
Thomas Berlin: Also eher visuell denken als vorausplanen.
Wolfgang Zurborn: Genau. Für mein Buch Karma Driver habe ich z. B. lange nach einem passenden Text gesucht – und bin dann bei Heinrich Zimmer gelandet, einem deutschen Indologen aus den 1930er Jahren. Er schreibt sinngemäß: Unser rationales Denken basiert auf archaischen Bildern, die wir seit Jahrtausenden in uns tragen – und wir können uns von ihnen nicht lösen, ohne der Lebendigkeit abzudanken.
Diesen Satz fand ich wahnsinnig stark. Er spricht auch von der notwendigen Paradoxie der Bilder, die uns erst ein Bewusstsein für unsere Existenz vermittelt – mit all dem Unlogischen und Irrationalen. Er kritisiert, dass die Moderne nur noch jene Bilder akzeptiert, die als Beleg eines wissenschaftlichen Diskurses gelten. Und genau da fühlte ich mich plötzlich in meiner Haltung zur Becher-Schule bestätigt: Was mich an ihr stört, ist das Abdanken der Lebendigkeit. Diese Eliminierung aller Paradoxien, aller Widersprüche – das Sammeln des Gleichartigen als Haltung zur Welt. Das empfinde ich als beängstigend.
Thomas Berlin: Das ist eine starke Aussage – das Abdanken der Lebendigkeit. Ich habe die Bechers nie als Künstler, sondern als Produktfotografen gesehen. Interessant fand ich aber, dass sie Schüler hervorgebracht haben, die ganz anders arbeiten – weniger als Sammler. Aber ich kann das nachvollziehen: Bei vielen Becher-Schülern sehe ich nach wie vor diese Kontrolle, diese formale Strenge.
Wolfgang Zurborn: Absolut. Auch wenn manche digital gearbeitet haben oder mit anderen Techniken, blieb oft der Kontrollgedanke. Boris Becker etwa, oder auch Candida Höfer – es gab Variationen, aber die Haltung war doch oft vergleichbar.
Was Gursky betrifft: Ich erinnere mich an seine Aussage über sein Rheinbild. Er meinte sinngemäß: Erst dadurch, dass ich mit dem Computer alle Spuren menschlichen Lebens entfernt habe, wurde es ein gültiges Bild des Rheins.
Für mich ist diese Haltung sehr problematisch, weil sie die Sehnsucht nach einer absoluten Kontrolle vermittelt. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was ich bei Joel Sternfeld schätze. Sternfeld zeigt zum Beispiel einen leeren Spielplatz mit einer Vorstadtsiedlung im Hintergrund – so subtil, so voller Leben. Diese Empathie für den Menschen, dieser Humanismus – das ist das, was mir bei vielen Becher-Schülern komplett fehlt.
Thomas Berlin: Und wie wird das international gesehen?
Wolfgang Zurborn: Ich habe einige Zeit in Florenz unterrichtet, Ausstellungen gemacht und Vorträge gehalten. Als ich dort deutsche Positionen zeigte – auch experimentelle aus dem Umfeld der DFA (Deutsche Fotografische Akademie) –, waren die Leute völlig überrascht. Sie sagten: Wir wussten gar nicht, dass es so etwas in Deutschland gibt.
Zwei Wochen zuvor hatten sie einen Vortrag von Thomas Struth gesehen – und milde gesagt nicht gemocht. Ihr Trinkspruch am Abend war: Struth is not the truth. Für sie war das das absolute Gegenmodell zur vitalen Vielschichtigkeit deutscher Fotografie, wie ich sie ihnen vermittelt hatte. Ich konnte die Kritik an Struth nachvollziehen
Mir wurde dort gesagt: Du bist kein typischer Deutscher. Vielleicht stimmt das sogar (lacht).
Thomas Berlin: Struth hätte mit deinem Karnevalsbuch wohl nichts anfangen können.
Wolfgang Zurborn: Ganz sicher nicht (lacht). Und ich könnte mit seiner Haltung ebenso wenig anfangen. Schon bei meiner Ausstellung Menschenbilder-Bildermenschen im Museum Folkwang direkt nach dem Studium war mir klar: Ich bin das Gegenmodell. Ich wusste, dass die Becher-Schüler das furchtbar fanden. Aber das musste ich akzeptieren – und zu meiner Haltung stehen.
Thomas Berlin: Und das tust du bis heute.
Wolfgang Zurborn: Ja, und es trägt mich bis heute. Die Bilder, die ich damals bei Massenveranstaltungen gemacht habe, sind jetzt in meinem neuen Buchprojekt CROWDS.
Letztes Jahr hatten wir eine große Ausstellung in Kooperation mit The PhotoBookMuseum – mitten auf dem Neumarkt in Köln. Die Bilder waren zwei mal drei Meter groß, frei zugänglich im Stadtraum. Es war beeindruckend, wie positiv das aufgenommen wurde.
Da gab es sogar Petitionen, dass die Ausstellung bleiben soll – und selbst die Junkies meinten beim Abbau: Schade, dass die Bilder wegkommen. Und das war ganz anders als in den 1980er Jahren, als ich die Bilder machte. Damals habe ich zwar den Otto-Steinert-Preis der DGPh für sie erhalten, aber für ein breiteres Publikum waren sie oft zu kompliziert, zu sperrig. Heute, in einer anderen Zeit, erfahren sie eine ganz neue kollektive Wertschätzung.
Ich habe in der Pandemie hunderte Scans gemacht – viele Bilder zum ersten Mal überhaupt gesichtet. Und dabei festgestellt: Manche von denen, die damals unbeachtet blieben, sind heute Schlüsselbilder.
Thomas Berlin: Ich finde bei deinen Bildern diese bühnenartigen Szenen faszinierend – man kann länger darin herumsehen und entdeckt immer wieder Neues. Ich erinnere mich an ein Bild mit Schweinen mitten in der Stadt – war das nicht sogar in Indien?
Wolfgang Zurborn: Ja, genau – das war in Kalkutta, im Karma Driver-Projekt. Ich sage ja immer: Ich liebe es, Ordnungen zu schaffen, die das Chaos nicht verraten. Mir geht es nicht darum, die Welt aufzuräumen – sondern ihre Vielfalt zuzulassen, ohne sie zu beschönigen, aber auch ohne sie zu verteufeln. Die Bilder sollen eine Ambivalenz in sich tragen – ohne beliebig zu sein.
Thomas Berlin: Das ist auch mein Eindruck. Du beobachtest mit einem sehr menschlichen Blick – aber du bewertest offensichtlich nicht.
Wolfgang Zurborn: Absolut. Für mich ist es ein human interest, aber ohne moralischen Zeigefinger. Ich sage oft: Sehen statt bedeuten wollen. Oder auch: Sehen statt bewerten. Als ich in den 1980er Jahren begann, mit Blitz in Menschenmengen zu fotografieren, war das für mich eine große Überwindung – ich hatte eigentlich Angst vor Massen. Aber ich wusste: Das Bild vom Menschen, das ich suche, finde ich nur dort. Die Körpersprache war für mich entscheidend – sie erzählt etwas über die Gegenwart.
Ein klassisches Porträt, in dem jemand einfach nur in die Kamera schaut, ist nicht mein Ausdrucksmittel. Andere machen das fantastisch, aber für mich funktioniert es nicht. Ich musste mitten rein, in die Bewegung, die Konstellationen. Erst dadurch konnte ich etwas Relevantes über unsere Zeit erzählen.
Thomas Berlin: Also auch ein Weg, aus der Verkopfung rauszukommen?
Wolfgang Zurborn: Ja, das war total wichtig. Ich war immer ein Grübler – immer am Denken. Das Fotografieren war für mich wie ein Tanz, ein Weg, aus dem Dauerdenken rauszukommen. Gegenwart erleben. Und natürlich stehst du dabei ein Meter vor fremden Menschen und blitzt sie an – aber in der Masse denken viele, sie seien gar nicht gemeint. Jetzt – mit Abstand – verstehe ich noch viel klarer, warum ich das damals gemacht habe. Damals war man oft verunsichert: Was mache ich hier? Warum stehe ich mitten in dieser Menge? Es war ein Wechselbad: Manchmal euphorisch, manchmal wollte ich nur noch weg. Das gehört alles dazu.
Thomas Berlin: Erwin Olaf sagte mir einmal, dass seine Bilder aus dem tiefsten Inneren kommen – und dass er manchmal erst Jahre später versteht, warum er sie gemacht hat.
Wolfgang Zurborn: Ja, genau so ist es. Damals – gerade auch während des Studiums – hat man oft stark in Konzepten gedacht. Deshalb es haben viele Bilder gar nicht in die Ausstellung oder ins Buch geschafft. Weil sie nicht „ins Konzept passten“. Zum Beispiel Bilder ohne Menschenmassen.
Heute sehe ich das anders. Gerade durch diese Kontraste – Einzelperson, dann wieder Masse – wird ein Buch lesbar. Damals wollte ich das Konzept bestätigen – heute habe ich eine viel größere innere Freiheit im Umgang mit meinem Material.
Thomas Berlin: Und jetzt spürst du: Es ist an der Zeit, das Buch wirklich herauszubringen?
Wolfgang Zurborn: Ja, absolut. Es geht um diesen empathischen Blick auf den Menschen.
Thomas Berlin: Wolfgang, das klingt nach einem Schlusswort. Vielen Dank für dieses spannende Gespräch.
Wolfgang Zurborn ist Fotograf, Kurator, Fotodozent in Köln und einer der profiliertesten Akteure der zeitgenössischen deutschen Fotobuchszene. Nach seinem Studium an der Bayerischen Staatslehranstalt für Fotografie in München sowie an der Fachhochschule für Fotografie/Filmdesign in Dortmund (bei Hans Mayer-Veden) entwickelte er eine Bildsprache zwischen Dokumentation und Inszenierung, gekennzeichnet durch komplexe visuelle Konstellationen und einen empathischen Blick auf den Menschen im urbanen Raum.
Seine Arbeiten wurden international ausgestellt, u. a. Im Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg, im Fotografie Forum Frankfurt und auf Fotofestivals weltweit.
Zurborn leitet seit 39 Jahren zusammen mit Tina Schelhorn die Galerie Lichtblick in Köln und gründete 2010 die Lichtblick School, in der er im Rahmen mehrmonatiger Seminare Fotograf*innen bei der Entwicklung eigener Foto- und Buchprojekte begleitet. Von 1998 bis 2025 war er Mitglied des Präsidiums der Deutschen Fotografischen Akademie (DFA). Sein Online-Format Editing Challenge ist auf große Resonanz gestoßen und wirkt inspirierend auf die große Schar von Fotobuchliebhabern. Er veröffentlichte u. a. die Bücher dressur real, Catch, Drift, Play Time und Karma Driver.
Wolfgang ist im Internet zu hier zu finden: Website, Instagram und Lichtblick-School.
Feedback zum Interview ist gern hier.