„KI kennt nur Oberfläche. Fotografie kennt Biografie.“ - Der Fotograf Vincent Peters im Gespräch mit Thomas Berlin
Vincent Peters
Der Fotograf Vincent Peters spricht über KI und die zeitlosen Grundlagen der Fotografie. Er erklärt, warum der Weg zum Bild lange vor dem Auslösen beginnt – und weshalb Fehler, Unschärfe und Kontrollverlust für ihn Ausdruck kreativer Freiheit sind. Im Gespräch mit Thomas Berlin geht es um analoge Hirsche statt perfekter Prompts, um The Family of Man, Avedon, Brassaï, Hollywood-Licht und um die Frage, was ein Bild in Zeiten ständiger Simulation überhaupt noch bedeutet. Ein intensiver Blick auf die Essenz der Fotografie.
Foto links: © Knut Koivisto
Das erste Interview mit Vincent Peters führte ich 2020; es ist weiterhin aktuell und hier nachzulesen. Das folgende Gespräch stammt aus dem November 2025.
Thomas Berlin: Vincent, schön dass wir wieder sprechen. Womit wollen wir anfangen?
Vincent Peters: Heute triffst du keinen Fotografen mehr, ohne dass du nicht innerhalb von zweieinhalb Sekunden über KI sprichst. Das Thema ist überall.
Thomas Berlin: 2020 hattest du gesagt: „Das sichtbare Foto ist nur die Spitze des Eisbergs — das eigentliche Bild liegt darunter.“ Wenn man diese Metapher heute im Kontext von KI weiterdenkt, dann scheint die Vorgeschichte eines Bildes ja fast vollständig ausgeblendet zu werden.
Vincent Peters: Als Fotograf musst du überhaupt erst sehen: Das sichtbare Bild ist nur ein winziger Moment in einem viel größeren Prozess. Es ist irgendwo in der Mitte. Die Öffnung des Verschlusses ist buchstäblich nur der Punkt, an dem das Licht durchgeht. Aber das eigentliche Bild entsteht vorher, im Fotografen. Und danach, im Betrachter.
Dass wir uns so extrem auf das fertige Bild konzentrieren — das halte ich für einen riesigen Fehler. Und etwas anderes kann KI gar nicht: KI ist kein Prozess, sie erzeugt nur ein Resultat.
Thomas Berlin: Das heißt: Mit KI generierst du sofort das Bild — ohne den Weg dorthin erlebt zu haben. Das Prompten betrachtest du dann nicht als Vorgeschichte?
Vincent Peters: Ja, denn wenn du fotografierst machst, sind das nie nur „Bilder“. Denn die entscheidende Frage ist doch: Wo kommen sie her? Warum machst du gerade dieses Bild? Bilder entstehen nicht in dem Moment, in dem du auf den Auslöser drückst. Und auch der Betrachter „sieht“ das Bild nicht erst im Moment des Betrachtens. Er entwickelt es in seinem Kopf, in seinem Inneren. Das Bild passiert in ihm — genauso wie es vorher in dir passiert ist.
Thomas Berlin: Praktisch fällt bei jedem Foto eine Vielzahl von Entscheidungen an: Wie kadrierst du, was nimmst du auf, wann drückst du ab? Das sind ja alles Entscheidungen, die du als Bildschaffender triffst — und die hängen vermutlich eng damit zusammen, was du im Vorfeld weißt, dir vorstellst oder fühlst. Auch deine Erfahrungen und Wertvorstellungen fließen in die Art ein, wie du fotografierst.
Vincent Peters: Genau. Und vieles davon läuft völlig unbewusst ab. Das finde ich ja das Faszinierende an Fotografie: Es sind Prozesse, keine einzelnen Handlungen. Fotografie macht das Bild sichtbar — aber sie macht auch Teile von uns selbst überhaupt erst fühlbar, mit denen wir uns vielleicht nie bewusst auseinandergesetzt haben. Dieser Aspekt ist für mich viel interessanter als das sichtbare Resultat.
Thomas Berlin: Beim Fotografieren kannst du intuitiv handeln, wie du es eben beschrieben hast. Bei KI dagegen hast du diese Intuition vielleicht nicht, denn du musst vorher sprachlich definieren, was du willst — in Prompts, Konzepten, Absichten. Dadurch geht ein Teil der Intuition verloren und wird durch Konzeption ersetzt.
Vincent Peters: Früher war es ja so: Man hatte einen Belichtungsmesser, man musste die Blende einstellen, die Zeit, alles in Harmonie bringen. Und man musste scharfstellen. Das hieß: sich mit den Umständen auseinandersetzen. Wie viel Licht habe ich? Wie viel Licht verträgt der Film? Das war technisch — aber eigentlich ging es um etwas ganz anderes. Es ging darum, eine Stimmung festzuhalten, die einen selbst berührt hat. Darum geht es doch: Wann berührt mich ein Moment so sehr, dass ich das Gefühl habe, dieser Impuls in meinem Nervensystem könnte auf das Nervensystem eines anderen überspringen?
Thomas Berlin: Wie kannst du das Nervensystem des anderen erreichen?
Vincent Peters: Man kann das natürlich sehr direkt — Gewalt, Pornografie, Sensation. Das trifft sofort. Oder man kann es subtiler machen. Und je subtiler es wird, desto mehr Raum entsteht. Die Konturen werden weicher, aber die Wirkung kann länger nachschwingen.
Und da gibt es etwas, das ich sehr wichtig finde: Bilder haben eine Art Akustik. Sie sind wie ein Resonanzkörper, wie ein Musikinstrument. Ich habe mal Opernsänger fotografiert, unter anderem an der Metropolitan Opera in New York. Diese Sänger reden ständig darüber, welche Konzertsäle welche Resonanz haben — was zurückkommt von dem, was sie singen, und wie der andere es aufnimmt.
So kann man auch Fotografie betrachten: Jedes Bild hat einen Klang, eine Resonanz, manchmal auch eine Dissonanz. Das liegt nicht nur an der Stimme — um in der Metapher zu bleiben — sondern an der Aufnahme selbst, am Raum, an der Atmosphäre. Ein Bild hat ein Echo. Dieses Echo schwingt, und dieses Schwingen ist etwas extrem Subtiles.
Und genau dieses Feine fehlt bei KI völlig. Aber eigentlich geht’s um etwas anderes: Irgendwann — wir sind ja fast gleich alt — kamen die ersten halbautomatischen Kameras auf. Die eine hatte eine Blendenautomatik, die andere eine Zeitautomatik…
John Malkovich © Vincent Peters
Thomas Berlin: Ich erinnere mich: Als Kind dachte ich eine kurze Zeit, nur damit könne man richtig fotografieren. Was natürlich völliger Blödsinn war.
Vincent Peters: Dann kam die Vollautomatik, dann der Autofokus — und Schritt für Schritt hat die Kamera angefangen, Entscheidungen zu übernehmen, die früher der Fotograf getroffen hat.
Und damit wurde uns auch die Möglichkeit genommen, Fehler zu machen. Wenn du heute weitergehst, zum iPhone, das ja inzwischen für viele zur „ultimativen Kamera“ geworden ist: Da ist der Fotograf praktisch handlungsunfähig. Bei vielen Smartphones und modernen Kameras wirst du aggressiv entmündigt. Du kannst nicht mehr entscheiden, welche Blende du nimmst. Du kannst nicht einmal mehr ein unscharfes Bild machen! Selbst bei Nacht, auf der Straße, machst du ein perfekt belichtetes, scharfes Foto.
Diese Entmündigung wird uns verkauft mit der Idee: Wir wollen doch nur dein Bestes. Aber in Wahrheit reduziert man uns auf eine Art betreutes Fotografieren. Ich habe keine Entscheidungsfreiheit mehr. Und das ist eigentlich schon die Vorgeschichte der KI: Der kreative Prozess wurde Schritt für Schritt verändert — inklusive der Möglichkeit zu irren, zu scheitern, zu ringen. Genau das gehört aber zur Kreativität.
Thomas Berlin: Ja, wobei: Bei der Kamera können wir uns ja entscheiden. Die Oma nimmt das iPhone, kümmert sich um nichts und macht trotzdem gute Fotos vom Enkel. Und als Fotograf kann ich entscheiden, ob ich mich „entmündigen“ lasse oder eben bewusst vollständig bzw. teilweise manuell arbeite.
Vincent Peters: Ich glaube, diese Entscheidung ist heute gar keine echte Entscheidung mehr. Denn faktisch macht sie kaum noch jemand. Die Möglichkeit — die wirkliche Möglichkeit — ein schlecht belichtetes, unterbelichtetes oder unscharfes Foto zu machen, existiert im Alltag kaum noch. Sie ergibt sich gar nicht mehr aus dem Prozess. Wir wollen ja immer Perfektion.
Dabei lohnt sich ein Blick ins Museum: Wenn du ins MoMA in New York gehst, siehst du die schönsten Fotografien überhaupt. Und mindestens die Hälfte davon sind technisch „schlecht“ belichtet — Street Photography unter schwierigen Umständen. Und trotzdem haben sie einen unglaublichen Ausdruck.
Thomas Berlin: Ich war kürzlich in Luxemburg in der Ausstellung „The Family of Man“. Edward Steichen hat sie 1955 für die UNO kuratiert, und die Originalbilder hängen nun in Clervaux in Luxemburg. Technisch sind viele davon nicht gerade tecgnisch brillant — manche würden wir mit dem Smartphone vermutlich technisch sauberer hinbekommen. Und dennoch haben sie eine enorme Wirkung.
Vincent Peters: Genau darum geht es: Ob ein Bild technisch „besser“ wäre, sagt nichts darüber aus, ob es das gleiche Gefühl transportieren würde — oder ob es dieses Gefühl vielleicht sogar zerstören würde. Für mich ist „The Family of Man“ ein heiliger Gral. Bilder, an denen ich mich mein Leben lang orientiert habe. Ich wäre glücklich, wenn ich auch nur eines dieser Bilder jemals machen könnte.
Wir lassen uns total fehlleiten. Technik gibt die Standards vor, aber das ist gefährlich. Es gibt ein schönes literarisches Beispiel: Dostojewskis Figur des Underground Man. Er trifft bewusst die falschen Entscheidungen. Nicht, weil es Fehler wären, die man korrigieren muss, sondern weil diese Entscheidungen Teil eines existenziellen Prozesses sind. Fehler, Frustration, Scheitern — das sind Momente, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Sie sind keine Störungen, sondern wesentlich für die menschliche Natur.
Und Dostojewski sagt etwas Entscheidendes: Das Unvernünftige, das Fehlbare, ist eine Form der Rebellion. Nicht die Rebellion gegen ein System oder gegen einen Vater — sondern gegen die Vernunft selbst. Nur wenn ich das „Richtige gegen das Richtige“ tue, also bewusst falsch handle, kann ich Freiheit erfahren. Denn Freiheit zeigt sich gerade darin, die schlechte Wahl treffen zu dürfen. Allein darin erkenne ich, dass ich wirklich entscheiden kann.
Thomas Berlin: Was wäre in diesem Zusammenhang die Analogie zur Fotografie?
Vincent Peters: Diese Idee passt exakt zur Fotografie heute: Ich will das unscharfe, unterbelichtete Bild machen dürfen. Ich will die Möglichkeit haben, falsch zu liegen. Weil genau das mein freier Standpunkt als Fotograf ist. Ich möchte mich nicht bevormunden lassen, nicht an Standards angepasst werden. Und du merkst: Ich bin da leidenschaftlich. Diese digitalen, scharfen, überschärften, überkontrastierten, übersaturierten Bilder empfinde ich als unerträglich. Es gibt für mich kaum etwas Hässlicheres als diese iPhone-Ästhetik. Und es gibt nichts Schöneres als die alten, weichen, leicht körnigen, manchmal sogar etwas unterbelichteten Fotografien — diese Bilder voller Menschlichkeit.
Thomas Berlin: Ich habe in der Ausstellung „The Family of Man“ darüber nachgedacht, warum diese Bilder so ansprechend sind. Vielleicht liegt es zuerst am Menschlichen, das sie transportieren. Und dann an der Reduktion. Es gibt weniger Informationen, weniger Ablenkungen. Warum brauche ich die Schärfe irrelevanter Details? Eine Reduktion verhindert, dass wir vom Wesentlichen abgelenkt werden. Und es fällt auf, dass der Mensch ganz bewusst im Zentrum steht — nicht wie in vielen heutigen Street-Fotografien, in denen eher grafische Formen oder Schattenspiele im Vordergrund stehen.
Vincent Peters: Genau das ist es. Und bei „The Family of Man“ kommt noch etwas Entscheidendes hinzu — und damit sind wir wieder beim eigentlichen Problem von KI. Wenn man Menschen fotografiert, dann fotografiert man ja nicht den Menschen, der zufällig vor einem steht. Der ist nicht „das Bild“. Das Bild ist der Augenblick, den ich mit diesem Menschen teile.
Wir Fotografen vergessen oft, dass der Mensch uns ansieht. Der Fotograf ist ein aktiver Teil des Bildes. Der Mensch vor der Kamera reagiert nicht im luftleeren Raum — er reagiert auf dich, auf deine Präsenz, deinen Blick, deine Haltung. Das ist kein Monolog mit einer Maschine. Es ist ein Gespräch.
Und genau dieses Gespräch, diese wechselseitige Reaktion, ist das, was du in „The Family of Man“ siehst: Das Kind, die Frau, der Arbeiter — sie reagieren in diesem Moment auf den Fotografen. Und wie ich reagiere, so reagieren sie zurück. Erst dadurch entsteht das Bild.
Thomas Berlin: Also der Fotograf als Teil der Begegnung.
Vincent Peters: Sogar der wesentlichste Teil. Der Mensch vor der Kamera reagiert auf den Fotografen — und der Fotograf reagiert wieder zurück. Wenn wir Bilder anschauen, sehen wir genau diese Reaktion. Das ist ein fortlaufender Prozess. Und zu glauben, man könne diesen unwiederbringlichen Moment, der sich in einer 1/125 Sekunde ereignet und sofort verändert, auf einen Standard reduzieren — auf eine Statistik, eine Ästhetik, ein Arrangement der Oberfläche — das ist völlig naiv. Entscheidend ist alles, was zwischen diesen beiden Menschen stattfindet. Das ist das Bild.
Monica Bellucci © Vincent Peters
Thomas Berlin: Da sind wir sehr nah beieinander: Der Mensch vor der Kamera und die Fotografin oder der Fotograf sind entscheidend. Und ich würde das sogar noch erweitern. In dem Buch „The Meeting“ von Nadav Kander beschreibt er eine Dreieckstheorie, zu der der Mensch vor der Kamera, der Fotograf und der Betrachter zusammen gehören. Den Betrachter bezieht Nadav Kander ganz bewusst mit ein, obwohl der erst später dazu kommt.
Vincent Peters: Natürlich gibt es diese Dreiecksbeziehung — aber im Moment der Aufnahme ist der Betrachter ja nicht da. Er kommt erst später ins Spiel, wie du sagt. Was im Moment der Aufnahme zählt, ist diese unmittelbare Resonanz zwischen den beiden, die im Raum sind.
Thomas Berlin: An welche Momente erinnerst du dich besonders?
Vincent Peters: Ich habe in den letzten anderthalb Jahren viel mit Menschen und Tieren fotografiert. Eine Idee, die ich hatte: junge Rehe in einem surrealen Setting zu fotografieren, zum Beispiel in einem Schlafzimmer in New York. Ich hätte nie gedacht, wie schwierig das ist.
Aber darum geht es gar nicht. Das Interessante ist: Wenn du ein Tier fotografierst, reagiert es extrem sensibel auf den Menschen. Ein Kind macht vielleicht manchmal, was du willst — aber ein Tier niemals. Es ist völlig unabhängig. Und gleichzeitig reagiert es auf jede Schwingung des Menschen. Du bewegst deinen großen Zeh, und das Tier spürt es.
Ich hatte ein sogenanntes „bildschönes“ Model — sie wirkte aber emotional unruhig, hatte eine innere Nervosität. Das Tier hat unmittelbar darauf reagiert. Dann hatte ich ein anderes Model, sehr ruhig, meditativ, jemand, der viel allein in der Natur unterwegs ist. Zwei völlig verschiedene Menschen, die beide nur neben dem Tier saßen — aber die Reaktion des Tieres war völlig unterschiedlich.
Thomas Berlin: Diese Wechselbeziehung zwischend den beiden Motiven ist spannend.
Vincent Peters: Ja. Das Tier hat diese innere Unruhe unglaublich deutlich wahrgenommen — obwohl das Mädchen ja nicht herumgezappelt hat. Aber im Gespräch merkst du: Sie war innerlich angespannt, sie war „anders unterwegs“ als die, die vorher da war, die in Norwegen in ihrem Zelt meditiert. Und das Tier hat das sofort gespürt. Mir war das vorher nie so bewusst. Ich habe später wieder mit einem völlig anderen Model gearbeitet — diesmal mit einem Hirsch — und es war genau das Gleiche.
Thomas Berlin: Also so etwas hätte ich bei Delfinen erwartet, dass sie Stimmungen lesen. Aber bei Rehen und Hirschen bin ich echt überrascht.
Vincent Peters: Jede Maus, jede Katze, jeder Hund — jedes Tier nimmt Stimmungen auf. Besonders Fluchttiere, die sind extrem intuitiv. Für mich war das unglaublich interessant, weil ich plötzlich verstanden habe, wie weit diese augenblickliche Reaktion reicht. Nicht nur die physische, sondern die innere Ruhe des einen beeinflusst den anderen sofort. Und das ist bei zwei Menschen ja genauso. Wenn du jemanden triffst und du hast einen schlechten Tag oder bist gestresst, spürt ein sensibler Mensch das sofort — selbst wenn du dich bemühst, höflich zu sein.
Thomas Berlin: Vor fünf Jahren hatte ich ein anderes Bild von dir: Damals warst du für mich der Regisseur und das Model die Schauspielerin — du hast die Bühne gebaut, das Thema gesetzt, das Setting kontrolliert. Das Bild war vor allem deine Inszenierung. Jetzt aber — mit dem Tier — wirkt es so, als würdest du ganz bewusst Kontrolle abgeben, weil du ja gar nicht vorhersehen kannst, wie ein Tier reagiert.
Vincent Peters: Genau. Und vielleicht suche ich diese fehlende Kontrolle sogar. Denn ich wäre ja völlig frustriert und ehrlich gesagt naiv, wenn ich glauben würde, ich könnte ein Tier „regieren“. Das geht nicht. Ich habe auch andere Serien gemacht, bei denen das Bild nicht kontrollierbar ist: Menschen, die „brennen“. Menschen, die vom Himmel fallen. Da denken die Leute natürlich sofort: Das ist getrickst. Aber für mich geht es darum, dass sich das Bild von selbst ergibt. Wenn ein Mensch durch das Bild fällt, hast du keine Kontrolle. Das Bild entsteht einfach — in diesem einen Moment, den du nicht planen kannst.
Thomas Berlin: Sind das freie Arbeiten oder Werbeaufträge? Also: Wer beauftragt dich brennende Menschen fotografieren?
Vincent Peters: (lacht) Den Art Director muss ich noch finden. Nein, das sind freie Arbeiten.
Thomas Berlin: Es ist jedenfalls eine ganz andere Herangehensweise — ein bewusster Verzicht auf Kontrolle.
Vincent Peters: Ja, wobei ich eigentlich schon immer so gearbeitet habe. Ich habe das bisher nur stärker kultiviert. Ich habe schon immer an den glücklichen Zufall geglaubt. Du baust eine Situation auf, aber du entscheidest nicht, was darin geschieht. Deshalb benutze ich ja auch kaum Blitz, sondern Dauerlicht: Da entsteht etwas. Etwas ergibt sich. Das ist wie ein atmosphärischer Prozess. Und das, was sich ergibt, kannst du nicht erzwingen.
Und genau das ist ähnlich wie beim Betrachter: Was der Betrachter fühlt, wenn er sich deine Bilder ansieht, kontrollierst du ja auch nicht. Das ist vielleicht nicht „Zufall“, aber es liegt außerhalb deiner Verfügung. Es entsteht im Moment seiner Begegnung mit dem Bild.
Thomas Berlin: Auch das ist eine Art Kontrollverlust. In dem Moment, in dem du das Bild veröffentlichst, hast du ja keine Kontrolle mehr darüber, was Betrachter darin sehen.
Vincent Peters: Und darunter leiden wir Fotografen manchmal. Das ist in abgeschwächter Form die Quelle vieler Übel. Wir haben eine enorme Angst vor diesem Kontrollverlust. Deshalb versuchen wir oft, die Kontrolle zurückzugewinnen — und zerstören dabei das Bild. Im Englischen sagt man so schön: killing it with love. Man erstickt das Bild, indem man es überformt, überdefiniert, überkontrolliert.
Man darf den Betrachter nicht zwingen. Ein Bild ist kein Ziel, kein Endpunkt. Ein Bild ist eine Brücke. Eine Brücke zu einem Ort, den der Betrachter ohne uns nicht erreicht hätte. Aber wenn der Betrachter dort angekommen ist, müssen wir ihn allein lassen. Denn das, was er dort fühlt, gehört ihm. Und genau das ist schwer auszuhalten. Aber es ist essenziell: Das Bild kann ihn an diesen Ort bringen — doch was er dort erlebt, entsteht völlig eigenständig, ohne uns.
Thomas Berlin: Ja, du hast deine Vision oder deine Geschichte, und der Betrachter liest vielleicht etwas ganz anderes heraus, weil er andere Erfahrungen hat.
Vincent Peters: Genau — und das muss man respektieren. Das ist ja das Interessante. Man spricht in einem gewissen Sinne harmonisch aneinander vorbei. Es geht nicht darum, dass er „dein“ Gefühl fühlt. Das Bild bringt ihn an einen Ort, der für ihn persönlich ist — aber eben nicht an deinen. Dein eigenes Selbst kannst du ja nicht übertragen.
Thomas Berlin: Ich würde gerne noch etwas genauer über den Betrachter sprechen. Du hast vorhin von „Resonanzraum“ gesprochen und Fotografie mit dem Akustikraum odcer der Konzerthalle eines Sängers verglichen. Nehmen wir an, das Bild ist gemacht und der Betrachter kann es entweder auf einem Smartphone sehen, in einem Buch oder in einem großen Format in einer Ausstellung. Inwiefern verändert der Resonanzraum wärend der Präsentation — also die „Konzerthalle“ des Bildes — die Wahrnehmung?
Vincent Peters: Ich glaube, ein Bild kann an sich keine Wahrheit beinhalten. Jedes Bild ist eine Funktion seines Zwecks. Das heißt: Ein Bild ist ein völlig anderes Bild, je nachdem, wo und wie es gezeigt wird. Nehmen wir ein Foto einer nackten Frau. Im Museum ist es ein Bild. Halte ich dasselbe Bild auf einer feministischen Demonstration hoch, ist es ein anderes. Würde ich es im Irak zeigen, hätte es wieder eine völlig andere Bedeutung. Die Aussage eines Bildes ist eine Funktion des Zwecks, in dem es präsentiert wird. Und genau da liegt die Problematik: Bilder sind extrem manipulierbar durch ihren Kontext.
Thomas Berlin: Ich denke an das, was du vorhin gesagt hast: Ein Bild kann dich direkt treffen wie ein Holzschnitt oder eben subtil wirken. Und gerade subtile Bilder entfalten sich für mich nur, wenn ich Zeit habe, sie anzusehen — nicht, wenn ich sie auf dem Smartphone im Vorbeiscrollen sehe. Für mich hängt die Wirkung eines Bildes auch davon ab, wie es präsentiert wird und welche Chance ich überhaupt habe, es aufzunehmen. Oder ist das zu simpel gedacht?
Vincent Peters: Nein, das stimmt. Zeit verengt den Raum. Je weniger Zeit ich habe, desto enger wird mein Wahrnehmungsraum. Wenn ich durch die Stadt renne, zum Bahnhof oder zum Flughafen, nehme ich viel weniger wahr, weil mein Fokus auf ein Ziel verengt ist. Wenn ich hingegen Zeit habe und schlendern kann, öffnet sich der Raum — und meine Wahrnehmung auch.
Wir nehmen ohnehin mehr wahr, als uns bewusst ist. 95 Prozent dessen, was wir sehen, kommt gar nicht bewusst bei uns an. Es wandert ins Unterbewusstsein — und wird trotzdem Teil von uns.
Laetitia Casta © Vincent Peters
Thomas Berlin: Unsere Gefühlswelt, unser Bildergedächtnis speist sich ja auch aus diesen unbewussten Eindrücken und verändert uns — je nachdem, was wir sehen und wie viel davon.
Vincent Peters: Es gibt dazu einen Satz von Rainer Maria Rilke, den ich sehr mag: „Unsere Zukunft steht fest.“ Das klingt zunächst verwirrend, aber es ergibt Sinn, wenn man es als Potenzial versteht. Rilke meint: Unsere Zukunft verdichtet sich im Moment der Erfahrung. Sie tritt in uns ein und verändert uns — oft unbewusst.
Thomas Berlin: Lass uns das vertiefen. Du meinst, Rilke spricht nicht von einem festgelegten, eher fatalistischen Schicksal, sondern davon, dass unsere Zukunft aus dem hervorgeht, was in uns angelegt ist — aus unserem Können, unseren Erfahrungen, unseren noch unentwickelten Möglichkeiten?
Vincent Peters: Ja, und als Fotograf wissen wir: Die Bilder, die wir machen, sind schon lange in uns. Auch die Bilder, die wir noch nicht gemacht haben. Weil unsere Erfahrungen sich in uns ansammeln, verdichten, unser eigenes werden und uns verändern.
Marcel Proust hat das großartig formuliert — für mich eine der schönsten Metaphern über Fotografie überhaupt. Er spricht von den „nicht entwickelten Filmen in der Dunkelkammer unseres Bewusstseins“. Genau das meint Rilke: Wir nehmen Bilder und Erfahrungen auf, aber viele davon „entwickeln“ wir erst viel später — wenn überhaupt. Wir setzen uns erst später mit ihnen auseinander.
Dann können wir wieder zu Rilke zurückspringen und der sagt, dass uns nichts Fremdes widerfährt, sondern nur das, was uns schon seit langem gehört. Und das ist genauso mit unseren Bildern. Unsere Bilder kommen nicht zu uns, sondern unsere Bilder kommen aus uns heraus.
Thomas Berlin: Insofern siehst du das Foto, das du machst, auch als Selbstoffenbarung.
Vincent Peters: Genau. Dieser Schritt vom leisen Aufnehmen — dieser Verdichtung von Erfahrungen, die ins Unterbewusstsein wandern — hin zum Moment des Fotografierens ist entscheidend. Wenn ich ein Bild mache oder anschaue, dann entwickelt sich, um in Prousts Sprache zu bleiben, plötzlich einer dieser „Filme“. Und ich merke: Das trage ich schon lange in mir. Aber ich habe es nicht entwickelt, nicht betrachtet, nicht verstanden.
Bilder sind eine Möglichkeit, vergessene Teile unseres Selbst wiederzuentdecken — und sie überhaupt erst einmal bewusst wahrzunehmen.
Thomas Berlin: Wenn du sagst, das Bild kommt aus dir heraus, erinnert mich das an unser früheres Gespräch. Damals meintest du: „Schau dir deine Bilder an, und du weißt, wer du bist.“ Das drückt genau das aus. Deshalb würde ich gerne ein bisschen persönlicher werden: Wenn Bilder verraten, wer du bist, was verraten dann deine Bilder über dich?
Vincent Peters: Meine Bilder verraten sehr viel über die Beziehung zu meinem Vater. Und ich glaube, ähnliches gilt für viele Fotografen: Ihre Bilder zeigen ihre Beziehungen, ihre Biografie, ihre Sehnsüchte.
Bei mir ist die Schwarzweiß-Fotografie, das Cineastische, der Hollywood-Bezug — all das kommt tief aus meiner Geschichte. Ich bin, um es kurz zu machen, ein „Wochenendkind“ gewesen. Mein Vater und ich kannten uns kaum. Und wie viele Väter, die wenig mit Kindern zu tun haben, wusste er nicht so recht, wie er mit einem Fünfjährigen sprechen sollte. Das war ihm unangenehm, fremd.
Und dann passierte etwas Entscheidendes: Wir saßen zusammen vor dem Fernseher. Du erinnerst dich vielleicht — in unserer Jugend gab es am Samstagabend den Schwarzweißfilm im Fernsehen. Alte Hollywood-Klassiker, Nachkriegsfilme, große dramatische Bilder.
Für meinen Vater war das eine wichtige Zeit. Diese Filme boten ihm eine Hoffnung, eine Traumwelt, eine Möglichkeit, der Realität zu entkommen. Und für mich wurde diese Schwarzweißwelt zu einer gemeinsamen Sprache mit ihm — vielleicht sogar zur einzigen, die wir damals hatten. Aber ich durfte die Filme nicht sehen, weil ich war zu jung. Mein Vater hat mir die Filme erzählt. Am Sonntagmorgen hat mein Vater einfach um Kommunikation aufzubauen, mir von Filmen erzählt, die ich nicht sehen durfte. Das heißt, ich habe mir die Filme vorgestellt.
Thomas Berlin: Du hast dann dein eigenes Kopfkino entwickelt.
Vincent Peters: Und zwar, ohne dass ich die Filme wirklich gesehen hätte oder ein bewusstes Interesse dafür hatte. Aber als Kind spürst du, was deinem Vater wichtig ist. Du nimmst das auf und kompensierst es: Du suchst Kontakt zu einem Menschen, der ein bisschen distanziert wirkt. Und plötzlich merkst du: Das ist ein Zugang. Also öffnest du dich dafür. Andere Kinder sind mit Messi, Ronaldo oder Maradona aufgewachsen — ich bin mit Fred McMurray, Barbara Stanwyck, Edward G. Robinson oder Richard Widmark groß geworden.
Thomas Berlin: Ja, und deine Bilder könnten teilweise wirklich direkt aus diesen Filmen stammen.
Vincent Peters: Ja, absolut. Und das zeigt, wie tief diese Welt in mir steckt — das war ja deine Frage. Diese alte Hollywood-Ästhetik bedeutet mir bis heute etwas. Wenn ich alte amerikanische Filme schaue, dann ist das für mich eine Art innere Öffnung. Eine Rückkehr zu mir selbst. Obwohl ich diese Zeit ja gar nicht erlebt habe und sie historisch für mich nichts bedeutet. Aber interessant ist: Ich fotografiere dann jemand wie Monica Bellucci fast automatisch so, wie Sophia Loren inszeniert wurde.
Thomas Berlin: Wir sprachen beim letzten Mal auch über Zeitlosigkeit …
Vincent Peters: Genau. Und das liegt gar nicht nur an mir als Person. C. G. Jung nennt das die Mythologie — die Idee, dass wir archetypische Bilder und Grundideen früherer Generationen übernehmen. Sie leben in uns weiter, unabhängig davon, ob wir die Zeit erlebt haben oder nicht.
Thomas Berlin: Archetypen wären ein eigenes riesiges Thema für ein nächstes, langes Gespräch. Aber jetzt würde ich gern noch auf einen fotografischen Stil unserer Zeit zu sprechen kommen. Ich denke an die TIME-LIFE-Hefte und Bücher — das war ja eine prägende Art, Menschen zu fotografieren. Deine Arbeiten erinnern mich teilweise daran. Dennoch ästhetisch durchaus verwandt. Manche deiner Bilder könnten tatsächlich aus dieser Zeit gefallen sein. Als Kind habe ich die TIME-LIFE-Hefte oft angeschaut.
Vincent Peters: Diese TIME-LIFE-Bücher kenne ich gut. Ich hatte als Kind ein einziges Buch: „The Best Pictures of TIME-LIFE“. Ich war vielleicht sechs Jahre alt und habe dieses Buch hunderte Male angeschaut. Es hat sich tief in mir verankert. Darin waren Bilder aus dem Vietnamkrieg, von Demonstrationen, vom Civil-Rights-Movement — politische Fotos, aber auch Hollywood-Porträts. Und daran sieht man, wie weit man Bildwelten anderer Menschen übernehmen kann.
Es gibt einen Satz von T. S. Eliot, den ich sehr mag: „In Bildern ist Kommunikation, bevor es Verständnis gibt.“ Das ist der Schlüssel. Bilder sprechen zu dir, bevor du sie verstehst. Und das gilt auch für vieles, was wir in uns tragen: Etwas kommuniziert mit dir — und du begreifst erst später, was es bedeutet.
Thomas Berlin: Diese TIME-LIFE-Bücher erinnern mich, wie gesagt, sehr an die Bilder in deinen letzten drei Büchern — nur dass deine sinnlicher sind und „schöner“ in einem klassischen Sinn. Aber die ästhetische Herkunft ist spürbar.
Vincent Peters: Klar, vielleicht war es auch einfach die Zeit damals. Aber unabhängig davon: Man bekommt das nicht mehr aus sich heraus.
Monica Bellucci © Vincent Peters
Thomas Berlin: Wenn es in dir drin ist, warum solltest du es rauskriegen?
Vincent Peters: Naja, weil man irgendwann merkt, dass man in bestimmten Ideen auch gefangen sein kann. Und irgendwann rebelliert man dagegen.
Als wir damals unser erstes Interview führten, war all das noch kein Thema. Seitdem hatte ich mehrere Ausstellungen in italienischen Museen — darunter eine große Retrospektive im Palazzo Reale in Mailand. Interessant wird es vor allem im Zusammenhang mit deiner Frage von vorhin: Viele von uns haben das Gefühl, von ihren Eltern nicht das bekommen zu haben, was sie gebraucht hätten — zu wenig Liebe, Anerkennung, Fürsorge. Andere haben vielleicht zu viel bekommen, was auch eine Last sein kann.
Und es ist nicht nur „zu viel“ oder „zu wenig“. Das Faszinierende war: Als ich durch diese Ausstellung im Palazzo Reale ging — fast hundert Bilder, ein langer Rundgang — merkte ich plötzlich, dass ich nicht nur durch meine Fotografie lief, sondern durch die Seele anderer Menschen. Und da wird dir klar: Vielleicht hast du als Kind nicht das bekommen, was du dir gewünscht hättest. Aber wenn du älter wirst, merkst du, dass du alles bekommen hast, was dich genau zu dem gemacht hat, was du heute bist. Und oft war es viel mehr, als du damals verstanden hast. Es gibt einen schönen Satz von David Bowie: „Älter werden heißt, der Mensch zu werden, der man immer schon war.“
Thomas Berlin: Und vieles kann man natürlich erst mit zeitlichem Abstand richtig einordnen und würdigen.
Vincent Peters: Es dauert — manchmal sehr lange. Aber erst mit der Zeit wird man überhaupt fähig, diese Prozesse wahrzunehmen. Rilke sagt: „Uns widerfährt nichts Fremdes, sondern nur das, was uns schon lange gehörte.“ Das ist ein zentraler Satz: Wie viel von dem, was wir heute als Ereignis betrachten, war in Wirklichkeit schon lange in uns angelegt?
Und das gilt besonders für die Fotografie. Die Bilder, die wir machen, kommen nicht aus dem Moment. Sie kommen aus einem Reservoir, das sich über Jahre angesammelt hat. Jedes Bild ist eine Art Renaissance von Erlebnissen, Augenblicken, Erfahrungen — eine Verdichtung eines ganzen Lebens.
Man kann fast sagen: Ein Bild ist wie die DNA unseres emotionalen Selbst. Wenn du ein Bild betrachtest, das mit echter Beteiligung, mit Leidenschaft, mit innerer Wahrhaftigkeit entstanden ist, dann findest du das gesamte Selbst der fotografierenden Person darin wieder. Natürlich gilt das nicht für jedes beiläufige Smartphonefoto. Aber wenn ein Bild mit echter innerer Beteiligung entsteht, dann steckt in einer 1/125 Sekunde das ganze Leben eines Menschen.
Thomas Berlin: Ist dir, als deine Bilder im Museum in Italien hingenun du diese Wertschätzung erfahren hattest, der Rilke-Satz „Uns widerfährt nichts Fremdes, sondern nur das, was uns schon lange gehörte“ durch den Kopf gegangen? Oder wie fühlt sich so ein Moment an?
Vincent Peters: Ich glaube, in dem Moment selbst weniger. Da bist du eher bei etwas anderem — fast schon bei Proust. Es gibt ja diese berühmte Szene ganz am Anfang von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: Er taucht eine Madeleine in den Tee, und plötzlich ist er — durch Geruch, Geschmack, das ganze Sinneserlebnis — wieder im Wohnzimmer seiner Großmutter. Die ganze Welt dieser Erinnerung ist schlagartig da, vollständig, dreidimensional.
Proust hatte ein unglaubliches Gespür für die menschliche Natur. Er beschreibt etwas Wichtiges: Die Realität entsteht oft erst in der Erinnerung. Im Moment selbst sind wir überfordert — von Eindrücken, Ablenkungen, Ereignissen. Aber rückblickend verdichtet es sich, und dann verstehen wir, was ein Moment wirklich war.
Bei einer Museumsausstellung ist es genauso. Es ist Presse, es ist Aufregung, es ist Lärm — du nimmst die Komplexität der Situation gar nicht vollständig wahr. Aber im Rückblick merkst du, wie viel da in dir arbeitet. Und wie viel aus deiner Biografie, aus deiner vielleicht komplizierten Beziehung zu deinen Eltern, plötzlich auf dich zurückkommt, wenn du durch so eine Ausstellung gehst. So ein Moment öffnet alte Räume in dir, wie es Rilke beschreibt.
Thomas Berlin: Um die Situation zu beschreiben, ist das Beispiel mit der Madeleine im Tee wirklich sehr anschaulich. Du hast vorhin gesagt, ein Bild sei wie ein Teil deiner DNA. Nun gibt es Menschen, die genug Selbstbewusstsein haben, um das, was in ihnen steckt, intuitiv und unzensiert herauszulassen. Da passt dieses Bild sehr gut. Aber wie ist es mit Menschen, die fotografieren, um anderen zu gefallen? Für einen Auftrag, aus Eitelkeit, aus Anpassung? Auch das hat ja mit ihnen zu tun — aber es ist doch etwas anderes, oder?
Vincent Peters: Ich glaube, das sind nur Nuancen. Auch der Mensch, der lügt, sagt die Wahrheit — nämlich, dass er die Wahrheit nicht sagen will. Das ist ein sehr ehrlicher Zustand. Und genauso ist es mit Bildern. Wenn jemand sagt: „Ich möchte nichts über mich preisgeben“, dann sagt er damit sehr viel über sich. Schon die Entscheidung, etwas verbergen zu wollen, ist eine Form der Offenbarung.
Thomas Berlin: Auch das ist natürlich eine Form der Kommunikation. Wie wir spätestens seit Watzlawick wissen: Es ist unmöglich, nicht zu kommunizieren.
Vincent Peters: Genau. Und das ist sehr ehrlich. Wenn jemand sagt: „Ich möchte nicht, dass du mich kennst“, kommuniziert er damit bereits enorm viel.
Und da sind wir wieder — zum gefühlt 25. Mal — bei KI. Denn KI ist technisch geradezu dafür prädestiniert, die Persönlichkeit des Fotografen aus dem Bild auszublenden. Im wahrsten Sinne des Wortes: Der Fotograf existiert kaum noch.
Und es gibt noch etwas anderes: die statistische Glätte. Wenn du eine KI bittest: „Erzeuge mir ein Sofa mit zehn sehr erfolgreichen Geschäftsmännern“, dann überleg mal, wie viele davon dunkle Haut haben oder aus Nordafrika kommen. Wahrscheinlich keiner. KI reduziert sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Statistik.
Aber noch interessanter wird es bei Emotionen. Wenn du zur KI sagst: „Gib mir eine lachende Frau“, dann bekommst du wahrscheinlich ein hübsches Gesicht, gute Haut, ein Lächeln, das aussieht wie aus einer Kosmetik- oder Versicherungswerbung. Und juristisch betrachtet könnte man sagen: „Ja, das ist eine Frau, die lacht.“ Jeder messbare Parameter bestätigt das. Aber alles Wesentliche fehlt. Denn das Entscheidende ist ja nicht, dass sie lacht — sondern warum sie lacht. Lacht sie, weil sie schüchtern ist? Weil sie sich verstecken will? Weil sie etwas überspielt? Lacht sie mit mir — oder über mich? Ist es eine Maske? Ist es Zynismus, Nervosität, Traurigkeit?
Das ist der Subtext, der psychologische Unterton eines echten Menschen. Und genau dieser Subtext existiert im KI-Bild nicht. Die KI-Frau lacht nur auf einer rein messbaren Ebene — weil sie nie etwas anderes getan hat. Sie ist ja kein Mensch. Und ohne den Menschen gibt es eben auch keine Tiefe.
Vincent Cassel © Vincent Peters
Thomas Berlin: Ja, die KI hat ja nur – anders als wir – das „Bildgedächtnis“ des Internets. Sie kann nur daraus schöpfen. Wenn im Netz mehr weiße Menschen zu sehen sind als People of Color, wird ihr Standard eben weiß sein. Und wenn es mehr Werbebilder lächelnder Frauen gibt als Bilder von Menschen, die weinen, dann reproduziert sie genau das. So erkläre ich mir das zumindest holzschnittartig.
Vincent Peters: Genau. Was die KI nicht kann, ist die Frage stellen: Was macht diese Frau gerade durch? Wer ist sie? Was ist ihr passiert? Das ist alles irrelevant in einem KI-Bild. Es geht nur darum, beim Betrachter ein Resultat zu erzeugen. Mehr nicht.
Einer meiner ersten großen Jobs war für Miu Miu. Ich bin relativ spät Modefotograf geworden, weil ich immer pleite war. Aber Miu Miu war damals ein Sprungbrett für junge Fotografen. Sie haben gerne neue Talente aus England genommen. Irgendwann war ich dran.
Wir trafen uns in Mailand, weil Miuccia Prada nicht am Telefon sprach. Also flog ich dorthin und saß in einem Raum voller sehr eleganter Geschäftsleute – und Miuccia Prada. Es fühlte sich an wie ein Meeting mit Steven Spielberg. Ein paar Tage vor dem Shooting in Los Angeles – damals dauerten Modekampagnen noch Wochen, nicht zwei Tage wie heute – fragte sie plötzlich: „Sag mal, wer ist eigentlich die Frau, die du da fotografierst?“
Ich war völlig perplex. „Christina“, sagte ich. „Die Russin vom Casting.“ Miuccia sah mich an: „Wer ist sie?“ Und mir wurde klar: Ich wusste nichts über Christina. Gar nichts. In diesem Moment fiel es mir wie ein Groschen ein. In meinem Kopf schlug eine Glocke an. Und plötzlich verstand ich, was sie wollte.
Thomas Berlin: Wenn du sagst, dass man den Menschen kennen muss, um ihn fotografieren zu können — was bedeutet das konkret für dich als Fotograf? Wie tief musst du eintauchen, bevor du überhaupt die Kamera hebst?
Vincent Peters: Nur um das noch einmal zu verdeutlichen: Quentin Tarantino hat erzählt, dass er beim Dreh seines ersten Films, Reservoir Dogs, wahnsinnig nervös war. Er war noch nie zuvor an einem Filmset gewesen. Und plötzlich arbeitete er mit Harvey Keitel und anderen Leuten, die seit zwanzig Jahren am Set standen. Er fühlte sich komplett unsicher.
Und irgendwann dachte er: Okay, die wissen alle mehr über Film als ich — aber ich kenne meine Story. Ich kenne diese Charaktere. Ich habe sie geschrieben. Ich weiß, wer sie sind. Und genau das war wichtig: Er kannte die Menschen, die er inszenieren wollte. Die anderen nicht. So ist es bei uns Fotografen auch. Du musst die Menschen kennen, die vor deiner Kamera stehen.
Thomas Berlin: Sonst wäre es wie der Eisberg, den du beschrieben hast — komplett ohne Unterbau.
Vincent Peters: Der Eisberg. Alles, was zählt, ist unter der Oberfläche. Alles, was Bedeutung hat.
Thomas Berlin: Und damit sehen wir auch einen Unterschied zur KI prägnant gemacht: Die KI hat ja nur das, was oberhalb der Wasserlinie sichtbar ist. Die ganze Vorgeschichte spielt keine Rolle.
Vincent Peters: Genau. Die KI hat keine Vorgeschichte. Keine Story. Sie weiß nicht, warum der Mensch lacht, traurig ist oder sich verhält, wie er sich verhält. Das interessiert sie nicht — weil es das gar nicht gibt. Sie kennt nur die Oberfläche.
Thomas Berlin: Mir werden manchmal KI-Bilder gezeigt, die inzwischen so gut sind, dass sie sogar eine Art analoge Imperfektion zeigen und auch durchaus berührend wirken können. Aber in dem Moment, in dem ich weiß, dass kein Mensch beteiligt war — dass da keine Begegnung stattfand — verliere ich das Interesse. Kannst du das nachvollziehen, oder ist das zu eng gedacht?
Vincent Peters: Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Wir müssen neu definieren, was überhaupt noch ein Bild ist. Der nächste Schritt ist: Müssen wir definieren, ob hinter dem Bild noch ein Mensch steht? Und der Schritt danach wird sein: Müssen wir definieren, was ein Mensch überhaupt ist?
Thomas Berlin: Was ein Mensch ist? Wie meinst du das?
Vincent Peters: Wir müssen heute klären, was Identität bedeutet. Was macht einen Menschen aus — so sehr, dass wir sagen können: Dieses Bild ist von einem Menschen gemacht?
Nimm den Film Blade Runner. Die sogenannten Replicants sind so menschenähnlich, dass man sie nur durch einen komplexen Test vom Menschen unterscheiden kann. Und das ist genau der Punkt: Selbst derjenige, der den Roboter gebaut hat, kann ihn nicht mehr vom echten Menschen unterscheiden, wenn er diesen Test nicht durchführt.
Früher mussten wir nicht definieren, was ein Foto ist und was eine Illustration ist. Das war klar. Aber heute, wie du sagst, sind KI-Bilder technisch so gut, dass die üblichen Kriterien nichts mehr bedeuten. Und Philip K. Dick beantwortet diese Frage im Grunde bereits in Blade Runner: Der Roboter besitzt eingepflanzte Erinnerungen. Er hat keine eigenen Erlebnisse, keine eigene Biografie. Aber er glaubt daran. Er glaubt, diese Erinnerungen seien wirklich passiert.
Doch der echte Mensch hat eigene Erfahrungen, die ihn zu dem machen, was er ist. Er verarbeitet seine eigene Geschichte. Der Roboter verarbeitet nur die Geschichten anderer. Und genau das ist der Unterschied — auch in der Fotografie.
Thomas Berlin: Das heißt, um menschlich fotografieren zu können, brauchst du eine eigene Erfahrungswelt — einen inneren Fundus, auf den du zurückgreifen kannst?
Vincent Peters: Genau darum geht es: Die Definition, wer Mensch und wer Roboter ist, liegt darin, wer seine eigenen Erinnerungen besitzt. Und genauso wird es bei Bildern sein. Ein Bild ist nur dann ein Bild im klassischen Sinn, wenn es von einem Menschen stammt, der seine eigenen Erfahrungen gesammelt, verdichtet und ausgedrückt hat. Das ist ein Prozess, kein Resultat. Aber von außen betrachtet — wie du sagst — werden wir in wenigen Wochen keinen Unterschied mehr erkennen.
Thomas Berlin: Das ist der Punkt. In vielen Bereichen der Fotografie — Werbung, Webmarketing, Kataloge — braucht man ja kaum Empathie. Da wird KI wahrscheinlich alles übernehmen. Aber welche Arten von Bildern, glaubst du, lassen sich nicht ohne Menschen machen?
Vincent Peters: Alles, wo der Mensch zählt. Alles, was über reine Produktlogik hinausgeht. Überall dort, wo der Mensch nicht nur Mittel zum Zweck ist — wie das Lächeln, das nur Zahnpasta verkauft oder Haare, die nur Shampoo verkaufen sollen.
Thomas Berlin: Oder das Model, das lediglich als Kleiderständer dient.
Vincent Peters: Genau. Für die KI ist der Mensch immer nur Mittel zum Zweck — nie Zweck selbst.
Thomas Berlin: Was bedeutet das für deine eigene Fotografie in Zukunft?
Vincent Peters: Ich wette sozusagen gegen den Wahnsinn — in jeder Form. Du weißt ja: In meinen freien Arbeiten mache ich alles analog. Ich verbringe Monate damit, Hirsche oder Rehe zu finden. Vieles scheitert. Natürlich könnte man sagen: „Fotografier das Reh separat und setz es später mit dem Model zusammen.“ Aber darum geht es nicht. Ich suche den Zufall. Das Bild muss sich selbst ergeben.
Thomas Berlin: Du arbeitest analog und erzeugst damit Bilder, die KI so nicht hervorbringen könnte — gerade wegen des Zufalls. Und aus Sicht eines Betrachters macht das vielleicht einen entscheidenden Unterschied: Wenn ich weiß, dass du Hirsche gesucht hast, dass der Zufall eine Rolle spielte, dass dort eine reale Begegnung stattfand — dann fühlt es sich für mich viel wertiger und menschlicher an.
Vincent Peters: Das Schöne an der analogen Fotografie ist dieser Kontrollverlust. In dem Moment, in dem das Bild entsteht, sehe ich es ja gar nicht. Der Spiegel ist hochgeklappt, das Licht trifft den Film — aber ich sehe nichts. Ich habe nur eine Intuition: Da war etwas.
Thomas Berlin: Denkst du, dass dieses Bedürfnis nach Echtheit — nach Unvorhersehbarkeit — auch bei der jüngeren Generation noch eine Rolle spielt?
Vincent Peters: Das hoffe ich sehr. Wir müssen ja immer bedenken: Es gibt eine Erwartungskurve und auch eine Enttäuschungskurve. Und es gibt Kräfte, die KI massiv pushen — aus wirtschaftlichen Interessen. Man erzählt uns ständig: „Das ist die Zukunft. Dagegen könnt ihr nichts tun.“ Aber das hat wenig damit zu tun, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen.
Thomas Berlin: Inwiefern denkst du, dass Fotografie eine Wahrnehmungsform der Wirklichkeit ist?
Vincent Peters: Fotografie ist eine Beziehung zur Welt. Sie reflektiert diese Beziehung — und nur über diese Beziehung kann ich mich selbst erkennen. Ich weiß ja nicht, wer ich bin. Ich sehe mich nur über den Kontakt zur Welt, über das, was ich fotografiere. Und wenn man nun sagt: „Diese Beziehung übernimmt jetzt ein Computer“, dann ist das ein Bruch. Ein fundamentaler Bruch.
Thomas Berlin: Es geht dabei nicht nur um Bilder, sondern um ein menschliches Weltverhältnis? Diese Interessen greifen in alle Lebensbereiche ein. Natürlich gibt es auch positive Seiten — vieles hilft ja durchaus. Aber glaubst du, dass sich irgendwann eine Gegenbewegung bildet? Wenn irgendwann alles „fake“ ist: Kommt dann der Moment, in dem die Lochkamera oder andere vermeintlich anachronistische Techniken plötzlich wieder als cool und wahrhaftig gelten?
Vincent Peters: Ich glaube, das kann gut passieren. Es gibt immer Gegenbewegungen. Ein wesentlicher Instinkt des Menschen ist Neugier. Wo viele Leute stehen, schauen wir automatisch hin. Und im Moment steht die Menge eben vor der KI. Deshalb drängeln wir uns da hin — weniger, weil das Geschehen interessant ist, eher weil viele hinschauen.
Thomas Berlin: Also ein Hype, der sich aus sich selbst speist?
Vincent Peters: Genau. Und solche Hypes klingen oft schneller ab, als man denkt. Die Frage ist: Wie sehr werden Menschen KI wirklich akzeptieren? Lasse ich mir ein Kosmetikprodukt von einer KI verkaufen, wenn ich weiß, dass die Frau gar keine Haut hat — dass sie gar nicht existiert? Früher wurde auch viel retuschiert, klar. Aber es ist ein Unterschied, ob etwas geschönt wird oder ob der Mensch überhaupt nicht existiert.
Sophara Robbins © Vincent Peters
Thomas Berlin: Denkst du, dass diese Akzeptanzschwelle auch in anderen Bereichen gilt?
Vincent Peters: Absolut. Nimm die Pornografie — ein Riesenmarkt. Wollen Menschen wirklich synthetische Frauen konsumieren, von denen sie wissen: Diese Person existiert nicht? Man kann sagen: Daran gewöhnen sie sich schon. Aber ich glaube, es wird relativ schnell eine Sehnsucht nach dem „echten Menschen“ geben. Das wird ein Qualitätsmerkmal.
Thomas Berlin: Je künstlicher die Welt wird, desto wertvoller wird das Authentische?
Vincent Peters: Ja. Das pendelt sich immer ein. Schau dir die Mikrowelle an: Als sie kam, dachten viele, Restaurants seien erledigt, Kochen erledigt. Dann merkten die Menschen: Vitamine fehlen, Geschmack fehlt — und plötzlich gingen alle wieder auf den Wochenmarkt. Gegenbewegungen entstehen immer dann, wenn das Künstliche zu dominant wird.
Es geht dabei immer um Perfektion. Genau wie bei Dostojewski, beim Kristallpalast: Alles ist durchsichtig, makellos, glänzend — aber der Mensch ist darin der Fehler. Er ist nicht perfekt.
Thomas Berlin: Meinst du, dass Perfektion und Durchsichtigkeit uns irgendwann zwingen, Dinge von uns selbst zu verstecken?
Vincent Peters: Vielleicht. Mir fällt da etwas zu Hermann Hesse ein, das für unser Thema sehr passend ist. Wenn man über seine Biografie liest, bekommt man den Eindruck, dass er als Kind das Gefühl hatte, in einer Art Glashaus aufzuwachsen: Alles durchsichtig, alles sichtbar, alles streng beobachtet. Seine Eltern — sehr religiös, sehr ordnungsbetont — wussten immer, wie man sich „richtig“ verhält. Sie hatten gewissermaßen Türen, durch die sie sich zurückziehen konnten.
Er selbst aber hatte dieses Versteck nicht. Es gibt Beschreibungen, in denen man spürt, dass Hesse Anteile seiner Persönlichkeit verbergen musste — nicht, weil er wollte, sondern weil die Umgebung keinen Schutz bot. Und dass er später als Erwachsener manche dieser verborgenen Teile nur schwer wiederfinden konnte.
Für mich steckt darin etwas Entscheidendes: In einer zu perfekten, zu durchorganisierten, zu transparenten Welt verstecken wir immer größere Teile unseres wahren Selbst. Und die Frage ist: Wollen wir in so einer Welt wirklich leben?
Thomas Berlin: Vollständige Transparenz wäre tatsächlich eine Horrorvorstellung. Hesse ist ja im schwäbischen Pietismus aufgewachsen — einer sehr strengen, ordnungsliebenden Welt. Das passte kaum zu einem fantasiebegabten Geist wie ihm. Und wir wissen aus seinen Texten, wie sehr er unter diesem Umfeld gelitten hat: unter dem Druck, brav zu sein, gehorsam zu sein, sich in eine religiöse Ordnung einzufügen. Für jemanden, der innerlich in alle Richtungen explodierte, muss das fast wie ein Gefängnis gewesen sein.
Vincent Peters: Genau. Und Hesse war ein „schwieriges“ Kind, aber nur, weil er rebellierte — weil er die Ordnung und den Gehorsam, die seine Eltern von ihm erwarteten, nicht akzeptieren wollte.
Thomas Berlin: Du sagtest, dass Hesse ein schwieriges Kind war — man könnte es auch andersherum sehen: Er war ein fantasiebegabtes Kind in einer schwierigen Umgebung.
Vincent Peters: Das ist der natürlichere Blick. Er war ein hochkreatives Kind, das ausprobieren, anfassen, erkunden wollte. Und genau da sind wir bei der Fotografie heute: Die ist unfassbar konform geworden, unfassbar angepasst. Es gibt kaum noch originelle Bilder. Weil die Technik uns kaum noch erlaubt, originell zu sein. Alle Bilder vom Eiffelturm sind heute gleich: perfekt scharf, perfekt belichtet, perfekt farbkorrigiert. Du bekommst kaum noch ein schlechtes, also ein individuelles Bild vom Eiffelturm.
Thomas Berlin: Weil du Eiffelturm und Technik ansprichst: Als ich vorletzte Woche nachts durch Paris flanierte, musste ich an Brassaï denken. Diese nächtlichen Paris-Bilder von ihm… was für eine Atmosphäre! Und er hatte ja nur einfache technische Mittel. Die Bilder sind nicht perfekt — aber sie tragen etwas, das man heute kaum noch findet.
Vincent Peters: Thomas, genau da fällt mir etwas auf — das ist keine Kritik, eher eine Beobachtung: Du sagst wieder, die Bilder seien „nicht perfekt“.
Thomas Berlin: Ich verwende den Begriff „perfekt“ hier im technischen Sinne, nicht im Sinne von Atmosphäre. Moderne Kameras würden viel mehr Details zeigen. Aber vielleicht würde genau das die Atmosphäre zerstören – durch zu viel Information.
Vincent Peters: Genau. Und das ist der Punkt: Dieser technische Standard, an dem wir heute alles messen, ist ein völlig falscher Maßstab. Brassaïs Bilder sind nicht „trotz“ ihrer Unvollkommenheit so gut — sondern wegen ihrer Unvollkommenheit. Sie wollten nie perfekt sein. Sie sollten es nie sein. Wenn wir das mit Hesse vergleichen: Der Bruch entsteht nicht, weil etwas unvollkommen ist, sondern weil wir etwas fälschlicherweise nach Perfektionskriterien beurteilen, die dort gar nichts verloren haben.
Thomas Berlin: Das heißt, das Unperfekte ist nicht Makel, sondern Absicht?
Vincent Peters: Ja, in diesem Fall ist es die Essenz. Und Essentialismus bedeutet — wie die Griechen es beschrieben haben — dass alles, was existiert, etwas besitzt, das sein eigentliches Wesen ausmacht. Wenn diese Essenz verloren geht, ist die Sache zwar noch da, aber sie ist nicht mehr das, was sie ursprünglich war. Das gilt für alles: für den Menschen, für die Natur, für Kunst, für den Kosmos. Die Griechen sagten: Essenz vor Existenz. Ohne Wesen — keine wirkliche Existenz.
Thomas Berlin: Das ist eine interessante Betrachtungsweise. Lass uns das einmal auf die Fotografie übertragen. Und auf das Beispiel Brassaï.
Vincent Peters: Auch in einem Foto gibt es etwas, das seine Essenz ausmacht.
Nimmst du diese Essenz heraus, bleibt zwar ein Bild übrig — aber es ist nicht mehr das Bild. Es besitzt keine innere Wahrheit mehr.
Bei Brassaï ist die Essenz völlig klar. Seine nächtlichen Paris-Bilder haben eine besondere Atmosphäre, eine Textur, eine Stille, eine Einfachheit — und genau das macht sie unverwechselbar. Wenn du diese Qualität herausnimmst, bleiben nur banale Stadtbilder zurück.
Wenn man die gleichen Motive heute mit einem modernen Smartphone fotografieren würde, wären die Bilder perfekt — aber sie hätten ihre Essenz verloren. Sie wären zwar immer noch „Bilder von Paris“, aber nicht mehr Brassaï. Man hätte ihnen das Wesen entzogen — und damit im Grunde genommen auch ihre Existenz als Kunstwerk.
Thomas Berlin: So wie du das ausdrückst, geht es letztlich nicht nur um die Bilder selbst?
Vincent Peters: Genau. Die Essenz betrifft nicht nur das Bild, sondern auch den Menschen dahinter. Der Mensch bringt seine eigene Essenz in das Bild ein — seine Geschichte, seine Wahrnehmung, seine Reibung mit der Welt. Ohne diese menschliche Essenz bleibt nur eine Oberfläche zurück.
Essenz vor Existenz. Die Existenzialisten haben versucht, diese Reihenfolge umzudrehen — da gehe ich nicht ganz mit. Aber das Prinzip ist wesentlich: In der Fotografie hat jeder eine Essenz. Der Fotograf. Das Bild. Und — da sind wir wieder bei Nadav Kander — auch der Betrachter. Und diese Essenzen müssen sich irgendwie verbinden. Nur dann entsteht etwas Echtes.
Thomas Berlin: Und du meinst, diese Verbindung funktioniert im Digitalen nicht?
Vincent Peters: Zumindest nicht auf die gleiche Weise. Ich möchte niemandem zu nahe treten, der digital arbeitet — wirklich nicht. Aber digitale Fotografie ist eigentlich keine Fotografie. Digitale Fotografie ist eine Simulation von Fotografie.
Eine echte Fotografie ist Licht, das ein Negativ physisch berührt; ein chemischer Prozess, der etwas Unvorhersehbares mit sich bringt. Digitale Fotografie tut nur so, als wäre das der Fall. Genau wie ein iPhone beim Auslösen dieses gefälschte Klickgeräusch macht, als wäre da ein Spiegel.
Thomas Berlin: Oder wenn man künstlich Körnung hinzufügt, um so zu tun, als sei es analog?
Vincent Peters: Eben. Wir bewegen uns — gerade durch KI — immer stärker in einer Welt, die aus Simulationen besteht. Eine KI ist nichts anderes: eine Simulation. Und da stellt sich die Frage: Wie weit sind wir bereit, uns mit Simulationen zufriedenzugeben?
Wollen Menschen eine pornografische Simulation einer Frau sehen — oder einen echten Menschen? Wollen wir eine Banane — oder einen Joghurt mit Bananenaroma, der in Wahrheit weder Banane noch Joghurt ist? Das ist dieselbe Logik: Die Simulation ersetzt das Original.
Das digitale Bild ist letztlich eine wissenschaftliche Simulation der Reaktion von Licht auf ein Negativ. Aber Fotografie — echte Fotografie — ist der Moment, in dem Licht und Materie zusammenkommen und eine chemische Spur hinterlassen. Das ist etwas völlig anderes.
Thomas Berlin: Ich wollte schon fragen, ob sich deine Einstellung zur analogen Fotografie geändert hat — aber diese Frage erübrigt sich offenbar…
Vincent Peters: Im Gegenteil. Die Besonderheit des Analogen wird ja gerade dadurch immer sichtbarer, dass es seltener wird. Wie bei allem: Wenn Naturerlebnisse selten werden, werden sie wertvoller. Wenn echte Begegnungen selten werden, werden sie kostbarer. Und genauso ist es mit analoger Fotografie — wir verlieren sie, und genau dadurch wird sie immer wesentlicher.
Thomas Berlin: Die Diskussion darüber, wie technisch brilliant oder auch nur scharf ein Bild sein „sollte“, ist ja schon uralt. Julia Margaret Cameron zum Beispiel hat damals Großformatporträts extrem unscharf aufgenommen. Man warf ihr sogar vor, sie könne als Frau die Kamera nicht bedienen. Heute wären ihre Bilder ohne diese Anmutung kaum denkbar. Perfekt durchgezeichnet und der ganze Zauber wäre weg.
Vincent Peters: Das ist genau derselbe Punkt. Wieder Dostojewski: Das Ungehorsame, das Rebellische, das Nicht-Mitmachen — das ist oft der Ursprung der Kunst. Cameron hat ihr Bild nicht trotz der technischen Unschärfe geschaffen, sondern durch sie. Das war ihre Entscheidung, ihr Stil, ihre Essenz.
Thomas Berlin: Da waren eben andere Dinge wichtig. Apropos wichtig — was wird für dich in der nächsten Zeit wichtig sein? Hast du neue Projekte oder Ausstellungen geplant?
Vincent Peters: Man arbeitet sich da ja immer so ein bisschen durch und versucht, im Sturm den Fuß auf dem Boden zu halten. Und wie wir schon sagten: Man kann heute kaum noch einen Fotografen treffen, ohne dass es nur um Technik geht.
Wir arbeiten an ein paar Projekten. Ich arbeite auch an einem neuen Buch, das ist schon relativ weit fortgeschritten. Und ich habe gemerkt, dass ich schon lange kein Modeprojekt mehr gemacht habe — das habe ich bewusst etwas hinausgezögert. Änderungen entstehen ja immer aus einer Notwendigkeit heraus. Wenn wir ehrlich sind, sind wir alle ein bisschen faul. Die Qualität der Veränderung ergibt sich oft aus einer existenziellen Notwendigkeit.
Interessant ist, dass man solche Entwicklungen auch historisch beobachten kann. Paris im 19. Jahrhundert: Unter Napoleon III. verloren die Maler nicht nur ihre traditionellen Auftraggeber — Aristokratie und Kirche — sondern auch eine Instanz der „Wahrheitsrepräsentation“. Warum sollte man weiterhin Marienbilder malen, wenn niemand diese Form der Wahrheit mehr nachfragt? Die Kunst musste sich neu erfinden.
Thomas Berlin: Damit war die Kunst zumindest freier, allerdings auch brotloser.
Vincent Peters: Ja — und genau das macht den Menschen Angst. Freiheit klingt immer wunderbar, aber sie ist auch furchteinflößend. Freiheit bedeutet Entscheidungen. Und Entscheidungen bedeuten Verantwortung. Und manchmal bedeutet Freiheit auch, falsche Entscheidungen zu treffen. Das ist eine der zentralen Problematiken der menschlichen Natur: Wir haben Freiheiten, aber wir wissen oft nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen.
Und genau in dieser Situation befand sich die Malerei damals. Mit dem Ende der kirchlichen und aristokratischen Auftragskunst fiel der universelle Wahrheitsanspruch weg. Und plötzlich tauchten die ersten Impressionisten auf. Sie sagten: Ich male nicht mehr, wie die Welt ist — ich male, wie sie mir erscheint. Die Impression ist ja nichts anderes als ein subjektiver Eindruck, ein augenblickliches Empfinden aus einer bestimmten Perspektive. Vorher galt eine universelle Wahrheit; jetzt entstand eine innere Wahrheit.
Thomas Berlin: Ja, und dann ging es nicht primär darum, wie es aussah, sondern um die Stimmung, die man beim Anblick einer Tänzerin, eines Gartens oder des Frühlings hatte.
Vincent Peters: Genau. Es ging nicht mehr um die „Wahrheit“ des Motives, sondern um die Wahrheit des Künstlers. Und das finde ich so interessant, weil wir heute in der Fotografie in einer ganz ähnlichen Situation sind.
Der Mode- und Werbefotograf verliert zunehmend seine klassischen Aufgabenfelder. Die Werbung ist weg. Die Zeitschriften sind weg. Die festgelegten Wahrheiten — die vorgegebenen Themen, die vorgegebenen Models, die vorgegebenen Botschaften — verschwinden.
Und plötzlich entsteht ein Freiraum. Ein riesiger Freiraum. Und viele Fotografen — mich eingeschlossen — sind davon erstmal überfordert. Denn auf einmal kannst du machen, was du willst.
Hinzu kommt, dass du, wenn du machen kannst, was du willst, zwingend herausfinden musst, wer du überhaupt bist. Das ist viel schwieriger, als man denkt. Vorher wollten wir ja jemand anderem gefallen: einem Art Director, einem Kunden, einer Marke. Jetzt müssen wir unserer eigenen Wahrheit folgen. Und das ist ein anstrengender, manchmal schmerzhafter Prozess.
Thomas Berlin: Die weiße Leinwand kann eben auch eine massive Herausforderung sein. Und weil du die Malerei erwähnt hast: Es gab ja Zeiten in der Malerei, in denen in jedem Landschaftsbild zwingend ein religiöses Motiv auftauchen musste — die „Flucht nach Ägypten“ oder ähnliche Szenen. Dann standen da ein paar biblische Figuren im Bild, obwohl der Maler eigentlich nur die Landschaft zeigen wollte. Er tat es aus Zwang, nicht aus künstlerischem Impuls. Heute entsteht durch Social Media eine Art indirekter Zwang, denn Social Media erzeugt wiederum neue Standards, neue Konventionen, neue Abhängigkeiten.
Vincent Peters: Ja. Und ich glaube, diese Notwendigkeit — oder der vermeintliche Zwang — ist genau das, was man heute überdenken muss. In meiner Generation wollten viele Modefotografen jemand anderes sein. Wir wollten aussehen wie unsere fotografischen Helden. Der eine fotografierte diese Modestrecken, der andere jene Marken, und wir dachten: So will ich auch sein. Das war eine einfache Orientierung. Aber wenn diese Koordinaten verschwinden, wenn der Rahmen, in dem wir gearbeitet haben, wegbricht, dann musst du plötzlich dein eigenes Leben finden. Das ist kompliziert. Und viele sind in diesem Prozess gefangen, weil uns die alten Bezugspunkte fehlen.
Aber gleichzeitig ist das natürlich ein Ort der Entwicklung. Veränderung ist anstrengend — aber auch fruchtbar. Biografisch erkennt man oft erst viel später, dass gerade die schwierigen Phasen die entscheidenden waren. Und ich glaube, wir befinden uns alle gerade in einer solchen Phase.
Scarlett Johansson © Vincent Peters
Thomas Berlin: Welche Veränderungen siehst du denn für dich selbst in der nächsten Zeit?
Vincent Peters: Genau dort liegt meine größte Herausforderung. Früher habe ich Frauen wie Monica Bellucci oder Adriana Lima zwar auf meine Art fotografiert, aber eben innerhalb einer klaren Struktur: Mode, Marke, Auftrag. Diese Struktur ist heute weitgehend weg. Und warum sollte ich Adriana Lima heute noch genauso fotografieren wie damals? Es gibt keine Notwendigkeit mehr. Und wenn man das einfach weitermacht, wirkt es schnell bedeutungslos.
Deshalb erkunde ich neue Grenzen. Frauen mit Hirschen. Menschen mit Feuer. Serien mit Stuntmen. Situationen, in denen ich keine totale Kontrolle mehr habe — in denen etwas passiert, das ich nicht planen kann. Ich suche nach Bildern, die jenseits meiner alten Muster liegen.
Thomas Berlin: Im letzten Interview hatten wir kaum über Technik gesprochen, sondern über sehr grundlegende Fragen der Fotografie. Siehst du es immer noch so, dass Technik oft intensiver diskutiert wird als Inhalte?
Vincent Peters: Absolut. Die Technik ist wichtig — aber nur insofern, als dass sie keine Rolle spielt. Du musst sie so gut beherrschen, dass sie verschwindet. Sie darf niemals im Mittelpunkt stehen. In einem Bild geht es nicht darum, ob deine Kamera gut ist, ob dein Licht perfekt ist. Es geht ums Bild. Und im Mittelpunkt steht alles, was den Menschen ausmacht. Technik ist nur Mittel zum Zweck. Sobald sie darüber hinaus Bedeutung bekommt, hast du schon ein Problem.
Helmut Newton hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht. Er wurde gefragt, warum er so viel mit natürlichem Licht arbeitet. Und er sagte: „Ich will zwischen mir und dem Modell keine Technik haben.“ Das hat ihn gerettet. Wenn Newton seine Bilder technisch ausgefeilter, künstlicher, aufwendiger ausgeleuchtet hätte, wären sie gestellt gewesen — sie hätten ihre Härte und gleichzeitig ihre Natürlichkeit verloren. Er wusste genau, was seine Bilder trägt, und dass diese extrem konstruierten Posen ein Gegengewicht brauchten: etwas Ungestelltes, etwas Echtes.
Thomas Berlin: Themenwechsel: Du lebst inzwisxchen wieder in Paris — was sollte ich mir dort anschauen?
Vincent Peters: Die Orangerie, unbedingt. Direkt am Place de la Concorde. Dort hängen Monets Seerosen — ein unglaubliches Werk, gemalt, als er schon über 80 Jahre alt war. Zwei ovale Räume, komplett umlaufend mit diesen riesigen Panoramen.
Was daran so faszinierend ist: Wenn du ganz nah herangehst, siehst du nur trockene, rohe Pinselstriche. Fast abstrakt. Ein einziger, grober Strich, ein Kringel, wenig Farbe — als hätte er das in Sekunden hingeworfen. Aber sobald du ein paar Schritte zurücktrittst, fügen sich diese Striche zu Licht, zu Wasser, zu Seerosen zusammen. Aus der Distanz wirkt plötzlich alles stimmig, poetisch und zwingend. Jeder Strich sitzt genau da, wo er sitzen muss.
Monet war beim Malen ja unmittelbar am Bild. Er sah die Wand aus wenigen Zentimetern. Aber er wusste genau, wie es auf einen Betrachter aus drei Metern wirken würde. Und das ist für mich das große Geheimnis: Das scheinbar Rohe, Unperfekte ist nur deshalb so stark, weil jemand seine Essenz verstanden hat.
Thomas Berlin: Man zerstört manchmal den Zauber einer Malerei, wenn man als Betrachter zu nah hinschaut, finde ich.
Vincent Peters: Gleichzeitig ist es interessant — diese Klarheit, die manche Menschen haben. Im geistigen Sinne gute Menschen, wie Rilke oder C. G. Jung, hatten etwas verstanden. Sie haben ihr ganzes Leben versucht, dieses Verständnis anderen zu erklären. Mal erfolgreicher, mal weniger. Aber alle wirklich wesentlichen Menschen haben etwas Wesentliches begriffen — Mozart durch Musik, Jung durch die Psychoanalyse, Monet durch Licht und Seerosen. Sie sagen uns auf unterschiedliche Weise: Ihr müsst die Welt als Beziehung verstehen. Das ist der Schlüssel.
Thomas Berlin: Du meinst dass Erkenntnis relational ist und jeder seine eigene eigene Art hat, diese Beziehung zur Welt zu verstehen? Und hat das etwas zu tun mit der Konzentration auf das Wesentliche — so wie Newton wusste, dass zu viel Technik seine Bilder nicht besser, sondern schlechter macht, weil sie seine Beziehung zum Modell stört?
Vincent Peters: Genau. Und dieses Wesentliche lässt sich vielleicht am besten mit William Blake erklären. Im frühen 19. Jahrhundert — Spätromantik in England — hat er ein Gedicht geschrieben, das man eigentlich kaum übersetzen kann. Auf Englisch sagt er:
If you can see the whole world in a grain of sand
and heaven in a wild flower …
Und das ist im Kern Fotografie. Die ganze Welt in einem Sandkorn — die maximale Verdichtung. Der Himmel in einer wilden Blume — ein Moment, der alles enthält. Und dann sagt Blake weiter:
… hold infinity in the palm of your hand
and eternity in an hour.
Die Kamera ist diese Handfläche, in der du die Unendlichkeit hältst. Die Ewigkeit ist der Augenblick der Belichtung. Das ist Fotografie: die Verdichtung dessen, was zählt. Alles Überflüssige fällt ab. Übrig bleibt die Essenz.
Thomas Berlin: Der Begriff Essenz berührt vielleicht den Punkt, der ein Bild wesentlich ausmacht. Deine Bilder — zumindest die, die ich aus deinen drei Büchern kenne — haben ja oft etwas Filmisches. Eine spezifische Location, spezifisches Licht, eine Stimmung, die mich sofort in einen amerikanischen Film der 50er- oder 60er Jahre versetzt. Das heißt viele Stilelemente tragen bei dir zur Bildstimmung bei und sidn verdichtet in der Essenz eines Moments.
Aber es gibt auch andere Ansätze. Der Fotograf Platon zum Beispiel sagte mir, dass er alles eliminiert, was nicht der portraitierte Mensch selbst ist: weißer Hintergrund, absolute Reduktion, nur die Person. Das ist ja fast das Gegenteil deiner Herangehensweise. Wie siehst du so einen Ansatz — wenn das von Blake angesprochene „Sandkorn“ nur noch der Mensch ohne jede Umgebung ist?
Vincent Peters: Das ist im Grunde der Ansatz von Avedon. In the American West — das war der entscheidende Moment. Weißer Hintergrund, kein Licht im ästhetischen Sinn, keine Pose, keine Location, nichts außer der puren Erscheinung.
Aber mein Weg ist ein anderer. Meine Bilder leben stark vom Atmosphärischen, vom Gefühl. Wenn du nur den Menschen hast, bleibt irgendwann nur noch die Psyche. Bei mir geht es auch um den Menschen in der Welt — um die Resonanz zwischen Figur und Raum. Man könnte es vergleichen: Monet, bei dem das Bild ein vibrierendes Geflecht aus Licht ist — versus Malevich, das schwarze Quadrat, radikale Reduktion. Beide sind konsequent, aber sie verfolgen völlig unterschiedliche Wahrheiten.
Ich schätze die Radikalität der Reduktion — Avedon hat mich sehr geprägt. Aber ich selbst bin stärker auf Sentiment, Atmosphäre, Narration ausgerichtet. Ich brauche manchmal „zu viel“, weil dieses „zu viel“ Teil der Geschichte ist. Der Mensch im Raum erzählt etwas über die Welt. Und selbst Avedon hat ja frühe Bilder gemacht, die nicht reduziert waren: Bob Dylan auf der Straße in Paris, solche Sachen. Das spricht auch mich sehr an.
Thomas Berlin: Vielleicht hatte Avedon einfach nicht wie du einen Vater, der ihm die Welt über Filme nahegebracht hat — deshalb lief bei ihm vielleicht kein „Kino im Kopf“ ab.
Vincent Peters: Das kann gut sein. Ich muss allerdings sagen: Ich habe weder seine Qualität noch sein Talent, und schon gar nicht seine Größe. Als ich meine Ausstellung im Museum in Mailand hatte, lief gleichzeitig — Tür an Tür — eine große Avedon-Retrospektive. Wir haben uns den Flur geteilt.
Ich habe sogar versucht, ein anderes Datum zu bekommen. Ich hatte schlicht Angst vor dem Vergleich. Das ist so, als würde man einen eigenen kleinen Film neben einen von Scorsese oder Fellini hängen — das muss man nicht haben. Und es war auch nie mein Anspruch, mich mit so jemandem in eine direkte Beziehung zu setzen.
Thomas Berlin: Ich finde, der Vergleich ist doch gar nicht schlecht. Vergleichen bedeutet ja nicht gleichsetzen. Ihr seid sehr unterschiedlich — das ist doch gerade das Interessante.
Vincent Peters: In Italien lief die Ausstellung sehr gut, aber ich sage dir ehrlich: Ich hatte unglaublichen Respekt. Ich kannte irgendwann das ganze Museumsteam, und die haben natürlich gemerkt, dass ich mich nicht in Avedons Ausstellung hineintraute.
Es klingt vielleicht pathetisch, aber ich dachte wirklich: Wenn ich seine Bilder sehe, falle ich in eine Depression, weil meine daneben so schwach wirken. Ich hatte das Gefühl, ich hätte diese Ausstellung gar nicht verdient — irgendwie Glück gehabt, hineingerutscht.
Seine Ausstellung war etwas früher, meine lief ein bisschen länger. Am letzten Tag, um fünf Uhr, habe ich mir gesagt: Komm, jetzt sei nicht albern — du bist erwachsen. Geh da rein. Ich bin also doch noch rübergegangen. Zwei der Museumswärter kamen zu mir und sagten: „Na, traust du dich doch noch? Wir haben schon gemerkt, dass du die ganze Zeit gezögert hast.“
Thomas Berlin: Das zeigt Bescheidenheit. Menschen, die viel können, zweifeln oft.
Vincent Peters: Für mich ist das eher Realismus. Es gibt Menschen, deren Werk eine universelle Größe hat — da komme ich nicht mit. In diesen Fahrstuhl steige ich nicht ein, da warte ich lieber auf den nächsten.
Aber — und deshalb erzähle ich dir das — als ich dann endlich durch die Avedon-Ausstellung gegangen bin, habe ich etwas extrem Wichtiges gelernt. Trotz all seiner Größe, seiner Brillanz, seiner Unerreichbarkeit habe ich gemerkt: Ich will gar nicht so fotografieren wie er. Selbst wenn ich es könnte — was ich nicht kann — es wäre nicht mein Weg.
Und das habe ich erst verstanden, weil ich mich dieser Ausstellung gestellt habe. Ich bin da durchgegangen wie durchs Feuer — und als ich auf der anderen Seite stand, war mir klar: Ich suche etwas anderes. Nicht diesen radikalen Minimalismus. Ich suche in meinen Bildern Empathie, Kontakt, ein Gefühl von Menschlichkeit — vielleicht sogar eine gewisse Romantik. Das ist etwas, das Avedon gar nicht interessiert hat.
Thomas Berlin: Ihr verfolgt einfach unterschiedliche Vorstellungen. Abgesehen davon ist es eine große Ehre, auf derselben Etage wie Avedon zu hängen. „Peters – Avedon“ nebeneinander ist doch beeindruckend.
Vincent Peters: Natürlich. Es ist ein bisschen, als würdest du einen Preis in Cannes gewinnen und neben dir bekommt jemand wie Scorsese den Preis fürs Lebenswerk. Da denkst du: Das erreiche ich nie. Aber irgendwann sagst du dir: Ich bin jetzt hier, ich gebe mein Bestes — und er macht eben sein Ding.
Thomas Berlin: Du gehst ja auch gerne in Ausstellungen und schaust dir andere Fotografen oder Maler an. Wir waren kürzlich in Bonn, u.a. bei Gregory Crewdson im Kunstmuseum Bonn. Crewdson ist ja auch nicht gerade ein Minimalist …
Vincent Peters: Crewdson ist spannend. Diese Vereinsamung, diese Vorstadt-Melancholie — er hat eine klare Vision davon, wie seine Welt aussieht. Die Bilder sind für ihn nur das Transportmittel. Es geht nicht um die Fotografie selbst, sondern um seine Beziehung zur Welt. Wie Postkarten aus einem ganz bestimmten inneren Universum.
Thomas Berlin: Die Bilder machen etwas mit einem. Sie sind einerseits melancholisch — aber sehr kraftvoll.
Vincent Peters: Melancholie ist nichts Schlechtes. Wenn das sein Grundgefühl gegenüber der Welt ist — und er den Mut hat, dieses Gefühl konsequent umzusetzen — dann ist das absolut richtig. Jeder hat ein Grundgefühl. Bei Helmut Newton zum Beispiel war es eher Zynismus. Und er hat sich darin nie versteckt. Seine Bilder sind immer zynisch — das ist ihre Essenz.
Thomas Berlin: Neben der Crewdson-Ausstellung lief in Bonn ja auch die große Wim-Wenders-Retrospektive. Was ich erstaunlich fand: Wenders beginnt Filme gern mit einem halben Drehbuch — er weiß zu Drehbeginn oft nicht, wie der Film ausgeht. Das erinnert mich stark an Fotografie: Man kann ein Shooting minutiös planen oder man lässt Raum für Zufall.
Vincent Peters: Das passt tatsächlich sehr gut. Wenn wir über Film sprechen, gibt es einen schönen Gedanken von Béla Balázs: Die Welt besteht nicht aus festen Dingen — Bäumen, Steinen, Häusern — sondern aus 8 Milliarden Wahrnehmungen, die sich ständig verändern. Die Welt ist ein Kaleidoskop, das sich in jeder Sekunde neu zusammensetzt. Dinge existieren nicht an sich, sondern erst durch den Menschen, der sie sieht.
Thomas Berlin: Wenders sagt ja auch: Ein Film existiert erst, wenn er gesehen wird.
Vincent Peters: Genau. Und das kann man auf die Fotografie übertragen — oder auf die Impressionisten: Die Welt entsteht erst im Blick des Menschen. Deshalb funktionieren auch Filme, die erst während des Drehs ihre Form finden. Wenders treibt es weit, aber er ist nicht der Einzige. Casablanca wurde ohne fertiges Drehbuch gedreht — Ingrid Bergman wusste nicht einmal, mit wem sie am Ende im Flugzeug sitzen würde.
Auch „Apocalypse Now“, „Gladiator“ oder „Die Brücke am Kwai“ wurden unterwegs umgeschrieben. Manche der stärksten Szenen entstanden, weil niemand wusste, wohin die Reise genau geht.
Thomas Berlin: Ich kenne das sonst eher von Romanautoren: anfangen, ohne das Ende zu kennen.
Vincent Peters: Genau. Manche sagen: „Die Seite schreibt sich selbst.“ Und das trifft auch auf Fotografie zu: Du brauchst den wirklichen Zufall. Ein analoges Bild entwickelt sich selbst. Man darf dem Bild nicht aufzwingen, wie es sein soll.
Thomas Berlin: Bei Fotoshootings ist es ja ähnlich. Es gibt einerseits Fotografen, die jeden Schritt planen — und andererseits solche, die es einfach passieren lassen.
Vincent Peters: Von meiner sehr subjektiven Warte aus: Durchgeplante Bilder lassen kaum Raum für Überraschung. Sie können technisch brillant sein, aber sie atmen nicht.
Thomas Berlin: Ich bringe zum Shooting meist einen Plan mit — damit das Model denkt, ich hätte den Überblick. Aber am glücklichsten bin ich, wenn es dann intuitiv weiterfließt.
Vincent Peters: Ein Gespräch funktioniert genauso. Wenn jemand von Beginn an weiß, welche Meinung er vertreten will, und dir nur diese Meinung mitteilen möchte — dann bleibt es flach. Es öffnet keine Räume, es überrascht nicht.
Ein gutes Gespräch sucht seinen Weg wie ein Fluss. Es entsteht zwischen zwei Menschen, nicht in einem fertigen Konzept. Es ist schwierig, wenn man unsicher ist — aber noch viel problematischer, wenn man sich zu sicher ist.
Thomas Berlin: Du hast ja einen sympathischen Hang zu spannenden Autoren. Was hältst du eigentlich von Walter Benjamin und seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit?
Vincent Peters: Eines der wichtigsten Werke überhaupt.
Thomas Berlin: Und erstaunlich aktuell. Man kann heute noch über jeden Aspekt daraus diskutieren.
Vincent Peters: Ja, das ist oft so: Am Anfang, wenn Dinge noch offen sind, können Gedanken freier entstehen. Genau wie bei Blake. Wenn etwas noch nicht Routine oder Formel geworden ist, sondern im Zustand des Zweifelns — dann kann man es wirklich durchdringen.
Thomas Berlin: Lass uns zum Ende unseres Gesprächs noch einmal innehalten: Gibt es noch einen Gedanken, der hier noch seinen Platz finden sollte?
Vincent Peters: Ja, mir fällt ein Gedicht von Eichendorff ein:
„Es schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.“
Man kann das umdrehen: Vielleicht schläft auch in uns ein Bild — und das Fotografieren trifft dieses Zauberwort. Es weckt etwas.
Thomas Berlin: Wir sehen, dass selbst ältere Lyrik heute noch viel auslösen kann, auch wenn ihre Autoren nicht ahnen konnten, in welcher Welt wir einmal leben würden. Faszinierend finde ich, dass ein spätromantischer Dichter wie Joseph von Eichendorff plötzlich Teil einer zeitgenössischen Diskussion über Fotografie wird. Seine Weltsicht — dieses Vertrauen, dass das Große im Kleinen steckt — zeigt übrigens eine gewisse Nähe zu dem von dir geschätzten Blake.
Vincent Peters: Genau, ein Gedicht ist im Grunde wie ein Foto. Beide verdichten Wahrheit, Gefühl und Wahrnehmung auf engstem Raum. Sie sind Metaphern, die auf etwas Größeres verweisen, eine Art Brennglas für das Wesentliche. Und je mehr man sich für andere Künste öffnet, desto mehr versteht man über die eigene. Nicht, weil man seine Fotografie theoretisch erklären müsste, sondern weil man die Welt durch eine weitere Linse betrachtet — und plötzlich Zusammenhänge erkennt, die man vorher nicht gesehen hat.
Thomas Berlin: Vincent, herzlichen Dank für dieses inspirierende Gespräch, das ganz sicher noch länger nachhallen wird
Vincent ist über seine Website sowie auf Instagram zu finden. Feedback zum Interview ist hier willkommen.