„Der Druck kam mit den Likes. Aber am Ende muss ich mit den Bildern leben.“ - Der Fotograf Jörg Nicht im Gespräch mit Thomas Berlin

Jörg Nicht

Jörg gehört zu den bekanntesten Fotografen auf Instagram. Über eine halbe Million Menschen folgen seinen urbanen Szenen, Reisebildern und Alltagsmomenten. Im Interview spricht er über die Brüche hinter den scheinbar schönen Bildern, den Einfluss von Algorithmen auf unsere Sehgewohnheiten und warum Prints wichtig sind.


Thomas Berlin: Jörg, ich verfolge deine Fotografie seit Jahren auf Instagram. Mir ist aufgefallen: Du zeigst überwiegend die schönen Seiten urbaner Räume. Viele deiner Bilder wecken die Lust, Städte zu entdecken und zu bereisen. Deshalb verbinde ich deine Arbeit mit Reisefotografie auf hohem ästhetischem Niveau. Das ist meine Wahrnehmung als Beobachter. Wie würdest du deine Fotografie selbst jemandem beschreiben, der deine Bilder nicht sehen kann?

Jörg Nicht: Deiner Beschreibung würde ich nicht widersprechen. Meine Fotografie umfasst eine große Bandbreite: Street-Aufnahmen, Reisebilder und Alltagsbeobachtungen. Ich lege mich ungern fest. Es kann auch mal ein Porträt entstehen, obwohl ich mich nicht als Porträtfotograf bezeichne. Diese ‚schönen Seiten‘ in vielen meiner „Instagram-Fotos“ könnte man auch als  Postkartenfotografie bezeichnen. Dazu stehe ich. Aber wichtig ist: Meine Bilder enthalten Brüche. Sie wirken vielleicht auf den ersten Blick bunt und schön, haben aber auch Ebenen, die auf einer klassischen Postkarte keinen Platz hätten.

Thomas Berlin: Meinst du die Brüche in deinen Bildern eher künstlerisch oder auf gesellschaftliche Themen bezogen?

Jörg Nicht: Ich habe keinen explizite sozialkritische  Agenda in der Fotografie. Mir geht es eher darum zu schauen, was man in der Situation sehen kann, was es zu beobachten und auch was es für schöne Sachen zu entdecken gibt. Wir sind in Deutschland ja eigentlich immer gewöhnt,  alles kritisch zu sehen. Dem etwas entgegenzusetzen, darum geht es mir auch.

Thomas Berlin: Im Kunststudium kann es fast verpönt wirken, wenn die Sonne scheint.

Jörg Nicht: Ja, das ist auch legitim. Eine akademische Herangehensweise ist einfach eine andere. Aus meiner wissenschaftlichen Tätigkeit weiß ich: Theorie und Praxis erzeugen Spannungen, die man nicht immer auflösen kann.

Aber da gibt es ja auch eine ganze Spannbreite, und das ist eigentlich das Faszinierende an der Fotografie: wie breit gefächert sie sein kann. Von sehr strengen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Becher-Schule mit einem bestimmten Lichtsetting bis hin zur Porträtfotografie etc. Und das macht sicherlich auch den Reiz dieser Ausdrucksform, vielleicht sogar Kunstform, aus.

Thomas Berlin: Deine Bilder wirken auf mich, als wärst du ein Entdecker, der aktiv auf der Suche ist.

Jörg Nicht: Ja, das stimmt teilweise. Aber ich achte auf Licht und Sonnenstand und warte auch mal. Ich nenne es ‚provozierten Zufall‘: Ich weiß, wann die Bedingungen passen, gehe hin und suche. Wenn für mich zu lange nichts passiert, gehe ich weiter.

Thomas Berlin: Also suchend, ein Stück weit geplant, aber auch spontan. Vielleicht suchten die von dir eben genannten Bechers in ihrer Vorgehensweise auch und warteten dann die Lichtsituation ab, die ihre Objekte aus ihrer Sicht neutral abbildete. Bei dir wirkt es so, als wartest du auch, bis eine Person den Moment komplettiert.

Jörg Nicht: Genau.

Thomas Berlin: Was reizt dich so an urbanen Räumen, die den Schwerpunkt deiner Arbeit bilden?

Jörg Nicht: Gute Frage. In einer Stadt, wenn das Leben pulsiert, Autos fahren, vielleicht ein Oldtimer vorbeikommt, Hochhäuser die Szene rahmen – da fühle ich mich fotografisch wohl und inspiriert. Es hat auch eine emotionale Seite: In der Stadt fällt mir das Suchen leichter. Für ein Landschaftsfoto muss ich womöglich stundenlang wandern, dann noch frühmorgens das richtige Licht abpassen. Das ist mir oft zu aufwendig.

Thomas Berlin: Ich kann mir vorstellen, dass du in einem finnischen Wald weniger Bilder mit nach Hause bringst als an einem Tag in Detroit, wo du kürzlich warst und auf dessen Bilder ich schon gespannt bin.

Jörg Nicht: Ja, das ist tatsächlich ist so.

Thomas Berlin: Gibt es eine Haltung oder ein Motto, das dich leitet?

Jörg Nicht: Meine Bilder sollen aus sich heraus sprechen und etwas erzählen. Nicht nur einzeln, sondern auch als Serie. Das hat mich früh an Instagram fasziniert: regelmäßig posten, und durch die Abfolge entsteht eine Geschichte.

Thomas Berlin: Mir fällt auf, dass du in den letzten Jahren zunehmend Menschen ins Bild einbeziehst. Mal unbemerkt, wie eine Nonne auf dem Fahrrad. Mal in direkter Interaktion, wie der ältere Herr in Neapel, der dich ansieht. Sprichst du Menschen an?

Jörg Nicht: Der Mann in Neapel hat gesehen, dass ich ihn fotografiert habe, aber ich habe vorher nicht mit ihm gesprochen. Ich arbeite oft mit Weitwinkel – hier 35 mm – und die Leute nehmen mich dann wahr. In Italien gehört das Präsentieren dazu, da schauen Menschen auch gerne in die Kamera. In der Türkei habe ich mit den Menschen gesprochen, bevor ich sie fotografiert habe. In Detroit war es extrem: Menschen sprachen mich an, weil sie die Kamera sahen. Auf einem Markt fragte mich eine Frau nach einem Hochzeitsfotografen. Daraus ergab sich ein Gespräch und am Ende sprachen sie und ihr Begleiter ein Gebet für mich. Solche Begegnungen hatte ich dort ständig.

Thomas Berlin: Das amerikanische Detroit galt als reiche Autostadt, dann als Symbol für Niedergang und Verfall. Die Architektur bzw. ihr Zustand spiegelt ja beides wider. Deine Beobachtung der Freundlichkeit ist eine weitere Dimension.

Jörg Nicht: Ja. Architektur und Musik prägen die Stadt, aber diese Offenheit habe ich so in keiner anderen US-Stadt erlebt. Vergleichbar war es höchstens im britischen Newcastle – auch eine alte Industriestadt, die einen Strukturwandel durchgemacht hat.

Thomas Berlin: Wie gehst du mit den Menschen um, falls du sie überhaupt direkt ansprichst?

Jörg Nicht: Ich gehe nicht immer aktiv auf Menschen zu. Es hängt von meiner Tagesform ab. An manchen Tagen habe ich keine Lust, auf Leute zuzugehen. Ich möchte nicht abgelehnt werden. An anderen Tagen ist es einfacher. Wenn ich ausgeruht bin und Zeit habe, passiert vieles von selbst. Ich lächle sie an, hebe die Kamera an, was mein Interesse an einem Foto signalisieren soll. Es gibt dann einen Blick, der Einverständnis signalisiert oder auch nicht.

Thomas Berlin: Du hast über eine halbe Million Instagram-Follower. Das passierte sicherlich nicht von selbst. Wie kam das zustande?

Jörg Nicht: Ich habe mich in der ersten Woche nach dem Start von Instagram angemeldet. Wir hatten alle iPhones und waren fasziniert davon, wie man damit anders fotografieren konnte. Bald merkten wir: Man kann der ganzen Welt beim Fotografieren zusehen. Ein Schlüsselmoment war Fukushima: Live-Bilder direkt aufs Telefon – das war neu. Da ich ohnehin täglich fotografierte, postete ich regelmäßig. Ich hatte auch Vorerfahrung: 2003 machte ich ein Jahr lang täglich ein Foto mit einer Casio Exilim, oft mit kurzem Text. Auch Dunkelkammerarbeit ist mir nicht fremd. Auf Instagram landeten meine Bilder häufig auf der „Popular Page“. So wuchs die Zahl meiner Follower bis 2014/15 stark.

Thomas Berlin: Sicher nicht nur wegen Frühstart – Qualität spielte sicherlich auch eine Rolle.

Jörg Nicht: Vielleicht. Manche frühen Bilder gefallen mir heute noch, vieles wirkt schwach. Klar, wir hatten andere Ansprüche.

Thomas Berlin: Hat sich deine Fotografie verändert? Fotografierst du heute mehr ‚für Likes‘?“

Jörg Nicht: Der Druck kam mit den Likes. Aber am Ende muss ich mit den Bildern leben. Ich weiß inzwischen, was ‚die Masse‘ mag: Ein Foto vom Apfelbaum im Sonnenuntergang hinter dem Haus meiner Eltern bringt zum Beispiel mehr Likes als ein hart erarbeitetes Stadtfoto. Also mache ich beides: Bilder für Social Media und Bilder für mich. Die Plattform Substack war in dieser Hinsicht befreiend, denn dort kennt mich niemand und ich kann Alltagsfotos posten. Bei Kunden bin ich weniger frei, denn sie buchen meinen Stil oder meine Reichweite. Außerdem bevorzugt der Algorithmus heute Gesichter, früher war das anders.

Thomas Berlin: Du hast eben das Thema mit dem Apfelbaum hinter dem Haus deiner Eltern angesprochen, der als sehr schön empfunden wird. Schönheit ist ein interessanter Punkt, den du ansprichst. Was empfinden wir eigentlich als schön? In der Renaissance galten Symmetrie und der Goldene Schnitt als schön. Heute, im Zeitalter der sozialen Medien, gibt es vielleicht andere Meinungen darüber, was schön sein könnte. Deine Follower können dir über die Likes sagen, was sie als schön empfinden. Welche Dinge werden im heutigen Zeitgeist als schön empfunden, zumindest in deiner recht großen Blase?

Jörg Nicht:  Da spielt sicherlich eine Rolle, was der Algorithmus als gelungen empfindet. Ein weiterer Punkt ist, dass Fotos heute über das Smartphone im Hochformat konsumiert werden. Das hat auch einen Einfluss darauf, welche Bildkompositionen besser und welche schlechter wirken. Meine Erfahrung ist tatsächlich, dass die von dir genannte Symmetrie eineRenaissance erlebt, einfach durch das Smartphone, weil auf dem hochkant gehaltenen Smartphone-Bildschirm eine Symmetrie immer besser wirkt und einfacher zu konsumieren ist als andere Kompositionen. Durch die multiplen Krisen der Gegenwart haben Landschaftsmotive insgesamt einen großen Stellenwert - sie erlauben sozusagen eine Flucht aus der Realität und werden auch als schön empfunden. Weil sie eben ein Versprechen abgeben, für ein paar Sekunden rauszukommen.

Thomas Berlin: Was das Hochformat betrifft, so habe ich kürzlich gehört, dass man ein "Boomer-Bild" daran erkennt, dass es im WhatsApp-Status im Querformat angezeigt wird.

Jörg Nicht (lacht): Ja, das stimmt oft. Es gibt zwar auch eine Gegenbewegung mit Querformat-Postings auf Instagram, aber grundsätzlich dominiert das Hochformat.

Thomas Berlin: Querformat-Bilder wirken bei anderer Gelegenheit durchaus, z. B. bei Ausstellungen.

Jörg Nicht: Ich gestalte meinen Kalender für Freunde und Kunden auch im Querformat, so einen kleinen Tischkalender. Das Gute daran ist, dass ich so immer daran denke, auch Querformatbilder zu machen, um Fotos für einen Kalender zu haben. Ich habe schon öfter überlegt, den Kalender im Hochformat zu erstellen. Aber das würde zum Beispiel auf einem Schreibtisch nicht wirken, finde ich.

Thomas Berlin: Du hast eben deine Kunden angesprochen, darauf möchte ich gern eingehen. Du warst ursprünglich Sozialwissenschaftler an der Universität. Irgendwann kam der Punkt, an dem du aus deinem Hobby einen Beruf gemacht hast. Wie ist es dazu gekommen?

Jörg Nicht: Leidenschaft und wachsende Anfragen potenzieller Kunden machten Fotografie als Beruf möglich – auch dank Instagram. Die wissenschaftliche Laufbahn reizte mich weniger.

Thomas Berlin: Wirst du mehr für deinen Stil oder deine Reichweite gebucht?

Jörg Nicht: Beides. Manche Kunden wollen meinen Look, andere meine Reichweite.

Thomas Berlin: Angenommen, das Stadtmarketing einer Stadt bittet dich, die schönen Seiten dieser Stadt zu zeigen und dies in den sozialen Medien zu verbreiten – wäre das ein typischer Auftrag für dich?

Jörg Nicht: Ganz genau.

Thomas Berlin: Was ist für dich generell ein gutes Bild? Losgelöst von deinen eigenen Arbeiten, bei denen du ja auch die verschiedenen Sachzwänge wie Kundenwünsche und Reichweite berücksichtigen musst.

Jörg Nicht: Ein gutes Bild sollte in mir eine Frage auslösen. Vielleicht frage ich mich, wie es gemacht wurde. Oder noch besser: Ich beginne nach den Bedeutungsschichten in einem Foto zu fragen. Es muss also etwas zeigen, das mich zum Nachdenken anregt.

Thomas Berlin: Und wenn du das auf deine eigenen Bilder beziehst?

Jörg Nicht: Vor kurzem habe ich in Detroit ein Panning-Foto gemacht, das mir sehr am Herzen liegt. Entstanden ist es völlig ungeplant: Ich lief durch die nächtlichen Straßen der Stadt, hatte nicht die richtigen Belichtungseinstellungen parat und war eigentlich gar nicht vorbereitet. Trotzdem habe ich es geschafft, im Bruchteil einer Sekunde die Kamera in Position zu bringen und ein Panning-Foto aufzunehmen. Dieses Bild steht für mich sinnbildlich für Detroit. Es ist weniger die technische Perfektion, sondern die Entstehungsgeschichte – die Energie in diesem Moment, die ich freisetzen konnte und danach noch gespürt habe.

Thomas Berlin: Druckst du deine Bilder?

Jörg Nicht: Ja, ich versuche wöchentlich einige Bilder im Postkartenformat zu drucken. Manche entfalten erst auf Papier ihre Kraft. Ein Bild nur auf Festplatte oder iPhone reicht mir nicht. Prints, Magazine, Ausstellungen – dort schaut man länger hin.

Thomas Berlin: Ich habe kürzlich eine Umfrage unter meinen Instagram-Followern durchgeführt. Darin habe ich sie unabhängig von den tatsächlichen Möglichkeiten gefragt, welche Form der Foto-Präsentation sie für ideal halten. Ich hatte folgende Möglichkeiten vorgegeben: Social Media, Ausstellung, Fotobuch und persönliche Begegnungen. Obwohl alle Social Media nutzen, hat nur ein Viertel angegeben, dass Social Media die beste Möglichkeit sei. Am besten abgeschnitten hat die Ausstellung, wobei die wenigsten so etwas jemals selbst gemacht haben oder machen werden. An zweiter Stelle kam das Fotobuch. Ich kann gut nachvollziehen, dass Social Media offensichtlich als Werkzeug betrachtet wird, aber nicht als idealer Ort, um eigene Bilder zu präsentieren.

Jörg Nicht: Sehr verständlich. Social Media vernetzt gut und ermöglicht Begegnungen. Aber dort spricht man mit Bildern. Bei Prints spricht man über Bilder. Das ist ein Unterschied.

Thomas Berlin: Besuchst du Ausstellungen?

Jörg Nicht: Ja, regelmäßig, wenn auch nicht so oft wie gewünscht.

Thomas Berlin: Welche Rolle spielen für dich Fotobücher?

Jörg Nicht: Ich habe eine Sammlung, viele Lieblingsfotografen. Ein eigenes Buchprojekt habe ich im Kopf, aber es ist bisher nicht umgesetzt.

Thomas Berlin: Welches Buch hat dich zuletzt inspiriert?

Jörg Nicht: Der William Eggleston-Katalog aus seiner Ausstellung im C/O Berlin. Besonders die Schwarz-Weiß-Arbeiten. Zum Beispiel eine Aufnahme einer Parkhauseinfahrt – Auto, eine Person, mehrdeutig wie ein Filmstill. Komposition und Spannung sind großartig.

Thomas Berlin: Bei dir selbst dominiert aber Farbe, oder?

Jörg Nicht: Ich liebe Schwarzweiß, komme auch daher. Aber meine eigenen Bilder verlieren darin oft Kraft. Vielleicht bin ich darin nicht so gut.

Thomas Berlin: Ich sehe bei dir meist warme Farben. Zum Beispiel eines deiner letzten Bilder in in Berlin: ein türkisfarbener Oldtimer, untergehende Sonne, Zusammenspiel von Komplementärfarben. Für mich machen die Farben das Bild stark.

Jörg Nicht: Ja. Eigentlich wollte ich in dem Moment Schatten fotografieren, dann kam zufällig das Auto vorbei.

Thomas Berlin: Da du beim Fotografieren viel zu Fuß unterwegs bist, welche Ausrüstung hast du eigentlich dabei? Wenn ich kurz raten darf: Bei den Bienenzüchtern in Kirgistan sieht der Bildlook für mich nach einer Leica Q aus, aber da kann ich mich auch täuschen.

Jörg Nicht: Respekt, dass du das so einfach erkennst! Ja, ich bin viel mit einer Leica Q unterwegs, mit der ersten. Noch häufiger nutze ich jedoch eine Leica M11 mit einem 35-mm-Objektiv. Dabei versuche ich oft, wirklich nur die eine Kamera dabeizuhaben und nicht noch viel Rucksackgepäck, weil ich mich dann irgendwie freier und beweglicher fühle.

Thomas Berlin: Spielt ein Stativ für dich eine Rolle?

Jörg Nicht: Selten. Für Zeitraffer ja. Dank moderner Stabilisierung geht in der Stadt fast alles aus der Hand. Für ein Gewitter an der lettischen Ostsee hatte ich ein Stativ, aber am Ende gefielen mir die spontanen Aufnahmen besser. Meine besten Pannings (Anmerkung: Fotos mit Mitzieheffekt) mache ich übrigens mit der M11 – obwohl sie keine Sportkamera ist.

Thomas Berlin: Cartier-Bresson wird das folgende Zitat zugeschrieben: "La netteté est un concept bourgeois" (Schärfe ist ein bürgerliches Konzept).

Jörg Nicht: Genau. Bewegungsunschärfe ist nichts Schlechtes.

Thomas Berlin: Viele schimpfen über Social Media und nutzen es doch.

Jörg Nicht: In den USA geht man entspannter damit um: Es ist ein Marketingtool. Die „gute alte Zeit“ 2012/13 war auch schon kompetitiv. Social Media hat Stärken wie Vernetzung und Sichtbarkeit, aber eben auch Schwächen wie Oberflächlichkeit und Abhängigkeit.

Thomas Berlin: Die französische Fotografin Angélique Boissière sagte mir: „Getting too inspired is that you end up creating nothing and reproducing everything.“ Hat sie Recht? Wird Fotografie durch Social Media gleichförmiger?

Jörg Nicht: Ja. Algorithmen bevorzugen Bestimmtes, und der Zyklus von der Entstehung bis zur Nachahmung ist extrem kurz. Projekte erscheinen oft unfertig, weil Social Media permanent Content verlangt.

Thomas Berlin: Du beschäftigst dich ja nicht nur mit deinem eigenen Instagram-Account und Social Media, sondern betreibst auch den Podcast „Nicht im Netz“. Der Titel klingt ja fast so, als würdest du bewusst einen Kontrapunkt zur digitalen Dauerpräsenz setzen. Dort sprichst du auch mit Fotografen über ihre Erfahrungen mit Social Media. Plattformbetreiber haben meiner Meinung nach ein bestimmtes Weltbild, das mitentscheidet, was sichtbar ist und was nicht. Bei Instagram betrifft das etwa sensible Inhalte, wenn z.B. mehr Haut als Stoff zu sehen ist. Bei X wiederum spielt der Umgang mit politischen und extremistischen Inhalten eine große Rolle. Wie siehst du dieses Thema der kulturellen Hegemonie oder Einflussnahme der Plattformbetreiber? Würdest du sagen, das betrifft dich kaum, weil du vor allem Reisebilder zeigst – oder spürst du die Auswirkungen trotzdem?

Jörg Nicht: Es ist ein generelles Problem. Und, so wie ich dich verstanden habe, hast du das selbst auch schon problematisiert. Mich betrifft es insofern, als ich mir bei meinen eigenen Posts immer überlege: Was darf ich zeigen, und wo beginnt eigentlich Zensur? Ebenso frage ich mich: Was bekomme ich nicht zu sehen – und warum?

Als Sozialwissenschaftler sage ich, dass sich mit der Verschiebung von sozialen Netzwerken hin zu sozialen Medien etwas Grundlegendes verändert hat. Die Plattformen sind eben nicht mehr nur Orte des Austauschs, sondern müssen als Medien verstanden werden – und entsprechend reguliert werden. Ohne dass ich für jede Plattform im Detail die Mechanismen der Regulierung darlegen könnte, lässt sich doch festhalten: Die großen Plattformen bilden in ihren jeweiligen Bereichen faktisch Monopole. Und Monopole gehören reguliert. Sie müssen gesetzlichen Auflagen unterliegen und Verantwortung dafür übernehmen, was auf ihnen geschieht.

Thomas Berlin: Wenn eine Zeitung Falschinformationen veröffentlicht, muss sie eine Gegendarstellung abdrucken – das ist presserechtlich geregelt. In den sozialen Medien gibt es so etwas nicht, obwohl diese Plattformen längst zentrale Kanäle für politische und inhaltliche Botschaften geworden sind.

Jörg Nicht: Bei Twitter, heute X, gibt es mit den „Community Notes“ immerhin ein Korrektiv, das inzwischen teilweise von KI unterstützt wird. Facebook und Instagram (also Meta) gehen einen anderen Weg: Dort werden problematische Inhalte eher herabgestuft, sodass sie gar nicht erst prominent angezeigt werden. Damit versucht man das Problem zu umgehen.

Trotzdem bleibt es ein grundsätzliches Problem: Plattformen bewerten Inhalte nach Nutzungszeit und Relevanz – das heißt, sie sind darauf optimiert, die Nutzer:innen möglichst lange zu binden. Extremistische Inhalte oder solche, die starke Kontroversen hervorrufen, werden dadurch oft begünstigt, weil sie Engagement erzeugen. Das verstärkt jede Form von Extremismus im digitalen Resonanzraum. Eine einfache Lösung habe ich nicht – aber klar ist, dass die Logik der Plattformen das Problem verschärft.

Thomas Berlin: Wir als Nutzer werden von Social Media ja mit einem bestimmten Interessenprofil erkannt – und bekommen deshalb vor allem Inhalte angezeigt, die uns gefallen. Das ist bequem, weil man meist nur sieht, was einen ohnehin interessiert. Bei Kindern und Jugendlichen kann das aber problematisch sein: Sie kommen möglicherweise nicht mehr aus ihrer Blase heraus und glauben, die Welt sei genauso. Hältst du es für sinnvoll, bei Kindern und Jugendlichen Interessenprofile der Plattform zu verbieten, sodass der Algorithmus ihnen nicht mehr gezielt bestimmte Informationen ausspielt? Oder wäre das schon zu weitgehend?

Jörg Nicht: Genau diese Diskussion ist relevant – ob man Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Social Media überhaupt erlauben sollte. Ich glaube aber, ein Verbot von Profilen oder Zugängen würde nur an den Symptomen herumdoktern. Das eigentliche Problem liegt in der Funktionsweise von Social Media selbst: Algorithmen entscheiden, welche Inhalte bevorzugt und welche benachteiligt werden – und das geschieht weitgehend intransparent.

Wenn ich als Medienpädagoge argumentiere, würde ich sagen: Eigentlich müssten Menschen, gerade Kinder und Jugendliche, medienkompetent gemacht werden. Aber das ist kaum möglich, solange die Plattformen ihre Funktionsweise nicht offenlegen. Wir wissen schlicht nicht genau, wie die Algorithmen arbeiten – wir sehen nur die Ergebnisse, die nach außen ausgespielt werden.

Thomas Berlin: Aber ist die Kenntnis der Algorithmen, die sich ja auch ständig ändern können, überhaupt die Voraussetzung für Medienkompetenz?

Jörg Nicht: Ja, unbedingt. Ganz schlicht gesagt: Die Beurteilung dessen, was auf Social Media als relevant erscheint, hängt davon ab, dass man versteht, nach welchen Kriterien Inhalte sichtbar gemacht werden oder eben nicht. Natürlich kann man sich auch allgemeine Methodenkompetenzen aneignen, die unabhängig vom Medium gelten, egal ob man ein Buch liest, einen Film guckt oder Social Media konsumiert. Aber bestimmte Mechanismen sind spezifisch für Social Media. Und genau diese werden nicht transparent gemacht.

Thomas Berlin: Wie können Künstler Social Media besser nutzen? Sollten sie es als Werkzeug in ihrer künstlerischen „Werkzeugkiste“ verstehen? Ich frage deshalb, weil mir ein Vollzeitkünstler neulich sagte: Früher bestand das Künstlerdasein zu 20 Prozent aus Kunstschaffen und zu 80 Prozent aus Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Heute seien es immer noch 20 Prozent Kunst, dafür aber 80 Prozent Social-Media-Werbung. Macht er etwas falsch?

Jörg Nicht: Vielleicht sollte er froh sein, wenn er „nur“ 80 Prozent seiner Zeit für Social Media einsetzen muss. Viele andere Künstlerinnen und Künstler, gerade Fotografen, kämpfen zusätzlich mit jeder Menge Bürokratie – Rechnungen, Verwaltung, Organisation.

Falsch macht er deshalb eigentlich nichts. Meine Erfahrung ist: Besonders erfolgreich sind die, die Einblicke in ihre Arbeit geben. Also nicht nur das fertige Werk zeigen, sondern auch den Prozess – das sogenannte Making-of. Social Media funktioniert in dieser Hinsicht wie eine Art „Yellow Press“ für Kunstproduktion.

Die Menschen interessieren sich weniger allein für das Ergebnis, sondern vor allem für die Geschichte dahinter: Warum ist das Werk so entstanden, wie sieht der Weg dorthin aus, welche Gedanken und welches Können stecken darin? Wer diesen Prozess sichtbar macht, erreicht die meiste Aufmerksamkeit. Natürlich gibt man damit auch etwas von der eigenen Arbeitsweise preis – aber genau das schafft Nähe und macht den künstlerischen Alltag nachvollziehbar.

Thomas Berlin: Bilder oder Filme sind sicher ein wichtiger Punkt. Gibt es weitere Aspekte, die zum erfolgreichen Nutzen von Social Media beitragen – gerade für Fotografen oder Künstler?

Jörg Nicht: Trends spielen eine große Rolle. Man muss beobachten, welche Formate gerade funktionieren, auch wenn sich das ständig ändern kann. Was in den letzten fünf Jahren allerdings stabil geblieben ist: Der Fokus der Plattformen liegt klar auf Video. Das ist nach wie vor ein entscheidender Punkt.

Aus meiner eigenen Erfahrung würde ich sagen: Erfolg auf Social Media bleibt trotz allem unberechenbar. Manche behaupten zwar, man könne ihn planen, aber im Bereich Fotografie und Kunst halte ich das nur bedingt für möglich.

Ein weiterer Aspekt, den ich wichtig finde, ist das geschriebene Wort. Auch Texte können sehr stark wirken, gerade im Zusammenspiel mit Bildern. Eine allgemeingültige Formel gibt es aber nicht. Besser ist es, immer am konkreten Beispiel zu arbeiten – also einen bestimmten Account oder eine bestimmte Künstlerin in den Blick zu nehmen und daraus die passenden Schlüsse zu ziehen.

 
Social Media vernetzt gut und ermöglicht Begegnungen. Aber dort spricht man mit Bildern. Bei Prints spricht man über Bilder. Das ist ein Unterschied.
— Jörg Nicht in Interview mit Thomas Berlin
 

Thomas Berlin: Zum Schluss: Was machst du, wenn du nicht fotografierst?

Jörg Nicht: Kochen! Außerdem lesen – zur Vorbereitung auf Reisen oder momentan finnische Autoren. Wandern, Sport, Schwimmen.

Thomas Berlin: Jörg, vielen Dank für das spannende Gespräch. Möchtest du zum Schluss noch einen Gedanken mitgeben, der dir besonders am Herzen liegt?

Jörg Nicht: Mit Kameras - ob Smartphone, analoge Kamera oder Spiegelreflex - verändert sich das Sehen. Das Präsentieren von Bildern in Social Media gehört heute sicher zum Fotografieren, nicht zuletzt weil es auch unser Sehen beeinflusst. Entscheidend ist aber, dass jeder seinen Weg findet, die Fotografie für sich zu nutzen.



Jörg ist im Internet erreichbar über seine Website, seinen Instagram Account sowie seinen Podcast.

Feedback zum Interview gern hier.


Thomas Berlin

Thomas Berlin is a fine art photographer, photo blogger and photo book publisher from near Frankfurt am Main, Germany.

https://thomasberlin.net
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