„Ich will zeigen, wie sich ein Moment anfühlt, nicht wie er aussah.“ - Der Fotograf und Publizist Thomas Gerwers im Gespräch mit Thomas Berlin

Thomas Gerwers

Thomas ist mit der Fotoszene eng verbunden, u.a. als Herausgeber des Magazins ProfiFoto. Wir sprachen über seine eigene Fotografie, Fotobücher, Fotokunst und aktuelle Entwicklungen in der Fotografie.

(Foto: Götz Schleser)


Thomas Berlin: Thomas, du bist vielen Menschen in der Fotoszene als Herausgeber eines monatlich erscheinenden Printmagazins für Fotografie bekannt und engagierst Dich für die Fotoszene, organisierst Fotowettbewerbe und Events und kuratierst Ausstellungen. Weniger bekannt bist du als Fotograf mit deinen eigenen künstlerischen Projekten. Darüber würde ich gern mit dir sprechen. Darüber hinaus natürlich auch über deine Sicht auf die Fotoszene aus der Perspektive des Chronisten. Und zu guter lLetzt noch etwas über dich als Mensch, wie ich das in meinen Interviews immer mache. Starten wir also mir dir als Fotograf. 

Mit deinem Buch „Musa Erato“, das Fotografien deiner Frau aus einem einzigen Photo Shoot in einem Bischofspalast in Südtirol enthält, bist du - so kommt es mir vor - aus der „Deckung“ gekommen. Bevor wir auf die Bilder kommen, wäre es für die Lesenden des Interviews interessant, warum du erst jetzt, nach über drei Jahrzehnten Fotojournalismus, deine Arbeiten zeigst.

Thomas Gerwers: Laut Helmut Newton sind die ersten 10.000 Aufnahmen bekanntlich die schlechtesten. Für die habe ich mir lange Zeit gelassen. Was lange währt, wird endlich gut … Tatsächlich stand immer die Frage zwischen mir und meinem Coming Out als Fotograf, ob ich als Herausgeber eines Magazins für Fotokultur und -technik meine eigenen Arbeiten ernst nehmen darf, wo ich doch mit so vielen großartigen Fotografen arbeite. Ich habe mich daher lange zurückgehalten, wohl auch, weil ich mich nicht angreifbar machen wollte. Natürlich ist meine eigene Fotografie für die Beurteilung der Arbeiten anderer auch jetzt kein Maßstab für mich, aber ich stehe heute zu meinen Bildern, denn sie sind Ausdruck meiner Art zu sehen.

Wie würdest du deine Arbeiten zum Buch Musa Erato jemanden beschreiben, der die Bilder nicht kennt und sieht?

Das Projekt ist eine Hommage an meine Frau, die mich dazu inspiriert und ermutigt hat. Eine Muse spornt einen anderen Menschen zu kreativen Leistungen an. Erato ist die Muse der Liebesdichtung, und genau das sollen die Bilder sein, ein Gedicht als Liebeserklärung an Petra, das man zweimal lesen will. Musa Erato ist dabei nicht nur Titel meines Bildbands, sondern vielmehr der eines Langzeitprojekts. Das zwischenzeitlich nahezu vollständig vergriffene Buch zeigt nur einen Ausschnitt daraus.

Was war die Motivation für dieses Projekt bzw. diesen Bildstil?

Das Projekt erwuchs aus der Dynamik zwischen Petra und mir. Sie war fasziniert von der Art, wie ich sie sah und ermutigte mich, daraus eine Serie zu machen. Im Lauf der Zeit erwuchs aus vielen dieser Serien das Projekt. Der Bildstil entspricht meiner Art der Wahrnehmung.

Der Mensch vor deiner Kamera ist nicht nur deine Frau, denn sie ist selbst Fotografin. Was für eine Interaktion ergab sich beim Shoot daraus? Und wie ist generell dein Umgang mit deinen Models, damit meine ich insbesondere ob und ggf. welchen Freiheitsgrad du den Models einräumst.

Petra ist zu mindestens 50 Prozent Urheberin der Fotos, denn ohne sie würden sie nicht entstehen. Dabei ist natürlich hilfreich, dass wir gemeinsam Bildideen entwickeln. Sie weiß auch aufgrund ihrer Erfahrung hinter der Kamera, wie sie sich vor der Kamera positionieren und bewegen muss, sieht, wo sie optimal im Licht steht. Außerdem ist sie beim Editing und bei der Bearbeitung beteiligt. Es ist unser Gemeinschaftsprojekt.

Davon vollkommen unabhängig sind Fotos, die ich von anderen Menschen mache, denn die haben mit dem Projekt nichts zu tun. Ob ich jemanden fotografieren will, oder nicht, hat immer mit der Energie zu tun, die jemand ausstrahlt, und eigentlich nichts mit dem Aussehen. Es sind Begegnungen, die eine Eigendynamik entfalten. Als Fotograf nehme ich an diesem Wechselspiel mit dem Menschen vor der Kamera teil.

Die Bildserie zeigt tatsächlich viel Dynamik. Arbeitest eher intuitiv und zügig?

Ich arbeite schnell. Meine Frau sagt, zu schnell, aber das ist mein Flow. Dabei höre ich immer wieder, dass ich wie ein Analogfotograf vorgehe, denn ich komme mit nur wenigen Belichtungen eines Motivs aus. Natürlich läuft vieles dabei intuitiv, denn die Dynamik entspringt ja der Flüchtigkeit des Augenblicks, den ich im Bild manifestieren will. Interessant wird es ab einer 1/15 Sekunde.

Wenn es ab 1/15 Sekunde interessant wird, muss ich nachfragen. Kannst du das etwas ausführen?

Weil dabei Dinge im Bild passieren, die überraschen. Ich liebe Bewegungsunschärfe und die Effekte, die sie erzeugt, so wie in den Bildern von Lilian Bassman, Sarah Moon oder Paolo Roversi. Drei Fotografen, die ich für ihren souveränen Umgang mit diesem Stilmittel sehr bewundere. Oder denk nur an Francesca Woodman und viele andere große Fotografen, die damit gearbeitet haben. In Zeiten der Bildstabilisierung und schier endloser Lichtempfindlichkeit gerät der Zauber langer Belichtungszeiten bei vielen in Vergessenheit.

Dass du so wenige Belichtungen machst wie ein Analogfotograf finde ich interessant. Es gibt viele Fotografen, die mit mehr als 1.000 Bildern aus einem Shooting kommen. Warum kommst du mit vergleichsweise wenigen Bildern aus?

Damit es nicht noch mehr werden, denn ich halte mich mit einem Set nicht all zu lange auf, wechsele rasch zum nächsten und komme so auch schnell auf mehrere hundert Belichtungen. Von einem Motiv reichen mir dabei relativ wenige Aufnahmen, weil ich in der Regel weiß, wie ich ans Ziel komme und vor dem Auslösen überlege, was ich will, statt erst während dessen herum zu probieren. Meist schaue ich während des Fotografierens noch nicht einmal auf das Display, um die Ergebnisse zu kontrollieren, weil das den Flow unterbricht und ich mir relativ sicher bin, dass es passt. Aber ja, nicht immer gelingt das dann auch wirklich, das ist Teil des Spiels. Als ich jung war, kostete jedes Bild Geld und ich war angehalten, mir vorher sehr genau zu überlegen, ob sich das Bild auch wirklich „lohnen“ würde. Das wir heute wesentlich freier damit umgehen können, ist der Segen der Digitalfotografie. Gleichzeitig kenne ich Fotografen, die Motive im Serienbildmodus quasi filmen statt zu fotografieren und erst danach schauen, welche Belichtung brauchbar scheint.

Was möchtest du beim Betrachter mit deinen Bildern auslösen?

Ich wünsche mir seine Aufmerksamkeit, sein Interesse und will den Wunsch erwecken, sich länger mit dem Bild zu beschäftigen. Was es bei jedem Einzelnen auslöst, hängt von individuellen Faktoren ab, die ich nicht vorherbestimmen kann. Mir genügt, wenn es mir gelingt, Schaulust zu wecken.

Was hältst du in diesem Zusammenhang von der Triangle-Theorie von Nadav Kander, der das Zusammenspiel von Fotograf, Model und Betrachter aufgreift.

Für Nadav Kander ist ein Werk erst vollständig, wenn es jemand anschaut, sich damit auseinandersetzt und darauf reagiert. Natürlich hoffe auch ich, dass der Betrachter meine Gefühle und Reaktionen widerspiegelt, dass er - manchmal sogar ohne es zu wissen - Fragen stellt und reagiert. Aber eigentlich mache ich meine Bilder vor allem für mich. Was andere darin sehen, hat immer auch mit ihnen selbst zu tun.

Wie entwickelst du deine Ideen oder Themen? Hast du eine künstlerische Vision, wie du deine Bilder gestaltest?

Mir ist eine atmosphärische Wirkung und spürbare Authentizität wichtig. Dazu brauche ich die Präsenz des Gegenübers und die Energie der Location. Beim Projekt Musa Erato ist das Modell die Konstante, was wechselt sind die Orte. Deren Scouting nimmt mehr Zeit in Anspruch als die eigentlichen Aufnahmen und das Editing. Bei der Gestaltung spielen beide Elemente ineinander, beim Bildaufbau suche ich interessante Perspektiven und Bildschnitte. Aber ist das die Antwort auf Deine Frage nach meiner künstlerischen Vision? Ich will zeigen, wie sich ein Moment anfühlt, nicht wie er aussah. Frei nach Diane Arbus: ein Foto ist ein Geheimnis über ein Geheimnis. Je mehr es dir verrät, desto weniger weißt du …

Arbeitest du überwiegend mit deiner Frau als Modell oder häufiger auch mit anderen Menschen? Was sind deine Erwartungen an ein Model und deine Auswahlkriterien?

Was meine Modelfotografie angeht, habe ich das große Glück, meine Muse an meiner Seite zu haben, weshalb ich eigentlich nur sehr selten mit anderen Modellen fotografiere. Das ist eine Herausforderung, der ich mich aber zuweilen bewusst stelle. Dabei nicht auswählen zu können, stellt übrigens auch eine interessante Aufgabe, aber mich interessieren tatsächlich Menschen mit einer individuellen, gerne eher unkonventionellen Ausstrahlung. Oberflächliche Schönheit langweilt mich und konventionelles Posing geht gar nicht. Ein Model muss mit sich selbst im Reinen sein und darf sich nicht hinter klischeehaften Posen verstecken. Ich will Ausdruck, keine Masken, Tiefe statt Camouflage.

Wie kann ich mir generell eine Fotosession vorstellen? Z.B. Vorbereitung, Locationwahl, wie lange dauert eine Session etc.

Bei Musa Erato kommt wie gesagt als Erstes das Location Scouting. Dabei spielt oft der Zufall eine Rolle, und dann muss es zuweilen schnell gehen. Vor Ort arbeiten wir mit den Gegebenheiten, was Perspektiven und Licht angeht. Wir sind eingespielt, sprechen vorher ab, was das Styling angeht, wobei wir zu zweit shooten, ohne Team, ohne Visa. Nach zwei bis drei Stunden hören wir auf zu fotografieren, weil uns dann erfahrungsgemäß die erforderliche Energie verlässt. Ist eine Location neu für uns, erkunden wir sie zunächst gemeinsam auf der Suche nach möglichen Settings, besprechen das Styling, und dann beginnt der Tanz miteinander …

Bei anderen Gelegenheiten arbeite ich gerne mit Moodboards, um rüber zu bringen, was das gemeinsame Ziel sein soll. Ich finde das sehr hilfreich. Je besser die Vorbereitung, je entspannter der Flow.

Die Musa Erato-Bilder sehen nach Available Light aus. Oder hast du zusätzlich künstliches Licht gesetzt? Mit welchem Licht arbeitest du generell?

Die Bilder im Buch sind alle bei vorhandenem Licht entstanden, was ja tatsächlich bedeutet, es gezielt für eine Inszenierung zu nutzen. Vorhandenes Licht richtig wahrzunehmen ist die Voraussetzung dafür, es wirkungsvoll nutzen zu können. In bestimmten Fällen unterstütze ich das mit künstlichem Licht. Dabei hat LED den Einsatz von Blitzlicht bei mir abgelöst.

Kannst du bitte deinen generellen Umgang mit Licht und Komposition beschreiben? Z.B: welche konkreten LED-Lichtquellen nutzt du, worauf kommt es dir an, was ist eine ideale Lichtsituation für dich?

Ich nutze seit geraumer Zeit fast ausschließlich LEDZILLA Leuchten von Dedolight. Die sind klein wie eine Taschenlampe, lassen sich mobil mit einem Akku betreiben und können in der Helligkeit, der Farbtemperatur und dem Leuchtwinkel reguliert werden. Damit ergänze ich ggf. aber nur das vorhandene Licht. Als ideal empfinde ich kontrastreiches Licht, und davon gerne so wenig wie möglich.

Wann bist du mit deinem Werk zufrieden?

Wenn es mich auch beim zehnten Draufschauen im Abstand mehrerer Monate noch überzeugen kann. Beim Editing hilft Abstand. Was beim ersten Durchgang noch begeistert, muss nach drei oder mehr Monaten nicht zwangsläufig immer noch Gültigkeit haben. Wichtig ist, dass wir diese Bilder für uns machen und es daher vollkommen ausreicht, wenn sie uns gefallen. Wenn sie zu Anderen sprechen, freut mich das, aber das ist nicht das primäre Ziel.

Der zeitliche Abstand der Bildauswahl zum Aufnahmezeitpunkt zeigt ja auch die verschiedenen Interessenlagen. Manche Models möchten gern OOC-Bilder noch am selben Abend in Social Media zeigen während es teilweise Fotografen gibt, die die Bildauswahl überhaupt erst mit mehr zeitlichem Abstand beginnen.  Trüben die frischen Emotionen aus dem Shooting den klaren Sinn für die Bildauswahl?

Manchmal, nicht immer. Ein erstes Editing mache ich schon aus reiner Neugierde unmittelbar nach einem Shoot, aber Abstand hilft, einen ungetrübteren Blick zu erlangen. Das, was man bei der Aufnahme empfunden hat, steht dabei zuweilen im Weg, und wenn es für den Betrachter nicht spürbar wird, funktioniert ein Bild nicht oder bleibt nur eine Erinnerung für einen selbst, was auch ok ist, aber dann muss man es nicht zeigen.

Dass Modelle am liebsten sofort Bilder sehen wollen, kann ich nachvollziehen und ist auch in Ordnung, denn für sie haben diese Fotos noch eine ganz andere Funktion. Da geht es auch um Selbstvergewisserung, um Kontrolle, vor allem aber um nachvollziehbare Neugier. Ein Modell ist schließlich ein essentieller Teil des Prozesses, und warum sollte man sie nicht auch unmittelbar am Ergebnis teilhaben lassen? Ist ein Modell mit einem Bild nicht einverstanden, bleibt es unter Verschluss. Das passiert aber nur selten.

Was ist generell ein gutes Foto?

Ein Foto muß wie ein Bilderrätsel sein, dass dem Betrachter Lust macht, von ihm gelöst zu werden. Es muss ein Gefühl vermitteln. Sehen ist einer unserer Sinne, ein Bild muss daher sinnlich sein, womit ich jetzt nicht erotisch meine. Storytelling findet im Kopf des Betrachters statt, ein Foto muss dazu anregen. „Ein Foto ist wie das Geheimnis über ein Geheimniss. Je mehr es erzählt, um so weniger erfährt man“, lautet eines meiner Lieblingszitate von Diane Arbus.

Du fotografierst bzw. zeigst insbesondere das Genre Akt. Warum nicht Blumen oder Berge?

Ich fotografiere, was mein Interesse weckt. Das gilt für das Leben im Allgemeinen, weshalb ich auch Streetfotografie auf meinen vielen, oft berufsbedingten Reisen betreibe. Ich arbeite aktuell zum Beispiel am Editing für ein Buch mit Bildern meiner vielen Aufenthalte in Japan. Über zehn Jahre habe ich meine Frau bei ihren Reportagen über die Top Classic Car Events in Europa begleitet und dort auch selbst fotografiert. Dabei geht es mir immer um subjektive Impressionen, nie um die objektive Darstellung.

Was Bilder von Menschen betrifft, sind Aktdarstellungen aus verschiedenen Gründen in der gesamten Kunstgeschichte ein bevorzugtes Sujet. Darüber habe ich schon ganze Abhandlungen geschrieben, denn es ist wichtig, sich darüber bewusst zu sein, was und warum man Akt fotografiert. Einerseits hat ein Aktmodell nahezu automatisch eine andere Präsenz, denn es kann sich nicht verstecken. Andererseits erhalten Aktdarstellungen beinahe automatisch mehr Aufmerksamkeit des Betrachters. Als Fotograf kommt es mir auf die Form, nicht auf den Inhalt an, aber natürlich gibt es hier eine Wechselwirkung.

Kannst du bitte noch etwas zur Technik sagen? Z.B. welche Fotoausrüstung ist für deine Fotografie besonders wichtig?

Als Fotofachjournalist habe ich seit über drei Jahrzehnten Zugriff auf eine Vielzahl der jeweils aktuellsten Kameras und Objektive. Ich persönlich verfolge bei der Wahl meines Equipments allerdings eher Minimalismus. Ich arbeite seit Jahren nur noch mit lichtstarken Festbrennweiten, meistens mit gemäßigten Weitwinkel- oder Normalobjektiven. Ich will die Nähe zum Objekt, weil auch dadurch eine gewisse Energie entsteht, statt Distanziertheit. Für das, was ich „gepflegte Fotografie“ nenne, braucht es ansonsten nicht viel. Ich reise gerne mit leichtem Gepäck und reduziere mein Equipment daher sehr bewusst auf ein Minimum. Wenn ich mit einer einzigen Festbrennweite arbeite, weiß ich intuitiv, wie deren Bildwinkel ist und kann gezielt sehen, was ich fotografieren will. Bei Serien ist ein konstanter Bildwinkel übrigens auch für den Betrachter angenehmer. Lichtstärke ist mir wichtig, damit ich selbst unter den schwierigsten Bedingungen noch fotografieren kann. Bei einem Shoot möchte ich mich nicht mit meinem Equipment beschäftigen müssen, da gilt meine Aufmerksamkeit dem Moment und dem Modell.

Bislang habe ich von dir ausschließlich Schwarzweiß Bilder wahrgenommen. Als wir uns zuletzt gesehen haben, hattest du sogar eine reine Schwarzweiß Kamera dabei. Was fasziniert dich so an Schwarzweiß?

Ich fotografiere durchaus auch in Farbe. Schwarzweiß aber abstrahiert automatisch. Dadurch widersprechen Schwarzweißbilder unseren Sehgewohnheiten, bleiben aber lesbar für den Betrachter. Sie wirken grafischer. Wann immer Farbe im Motiv keine Rolle spielt, lasse ich sie darum weg. Wenn ich mich für eine einzige Kamera entscheiden müsste, würde ich für meine Fotografie ein Monochrom-Modell wählen. Auch hier verfolge ich das Ziel des Minimalismus, also der bewussten Reduktion.

Wie sieht dein Workflow nach der Aufnahme aus?

Ich arbeite mit Lightroom. Bei Shoots speichere ich JPEGs und RAW parallel, häufig verarbeite ich dann aber nur die JPEGs, weil die so aus der Kamera kommen, wie ich sie beim Fotografieren gesehen habe. Editieren ist keine Sache für Weicheier. Hier muss man schon in der ersten oder zweiten Runde gnadenlos selbstkritisch sein. Ich sehe immer wieder „Serien“, die keine sind, sondern bestenfalls Sequenzen, bei denen sich der Fotograf einfach nicht für ein Bild entscheiden wollte und das dem Betrachter überlässt. Nur so funktioniert das nicht. Natürlich kann beim Editing eine erste, schnelle Vorbearbeitung notwendig sein. Dabei nutze ich nur wenige Regler und nur sehr selten Voreinstellungen. Je weniger Motive es in die Endrunde schaffen, je dichter ist die Auswahl, auch wenn ich diese nach einiger Zeit noch einmal überprüfe. Editing ist wie das Destillieren von geistigen Getränken: es geht um die konzentrierte Essenz dessen, was ich vermitteln will. Der Rest mag ganz ok sein, kann aber weg.

Ohne eine akademische Diskussion anstoßen zu wollen, solltest du unseren Lesenden bitte den Unterscheid zwischen Serie und Sequenz erläutern, weil das Bewusstsein darüber einen praktischen Nutzen haben kann.

Eine Serie ist eine im besten Fall narrative Zusammenstellung unterschiedlichster Motive zu einem Thema. Eine Sequenz sind Varianten eines einzelnen Motivs und in den allermeisten Fällen reicht ein Bild aus, um zu vermitteln, worum es geht. Das auszuwählen ist Sache des Fotografen, nicht die des Betrachters.

Thomas, ich würde gern etwas konkreter auf dein Buch als Projekt und auf Fotobücher generell eingehen. Aber zunächst würde mich interessieren, warum du für deine Arbeiten die Präsentationsform Fotobuch gewählt hast, da du ja ein eigenes Magazin zur Verfügung hast und es auch digitale Formen der Verbreitung gegeben hätte.

Lange Frage, längere Antwort: Ich zeige keine meiner Fotos auf Instagram. Jeden Morgen werden die Menschen wach und erwarten auf Social frischen Content. Das Beste, was meinen Bildern da passieren kann ist, dass sie zu Thumpstoppern werden, dass also jemand, statt gleich weiter zu wischen, für zwei Sekunde innehält. Der Einzige, der davon profitiert, dass ich meine Bilder dort hochlade, ist Mark Zuckerberg. Petra sieht das anders und zeigt dort eine Auswahl der Bilder, die ich von ihr gemacht habe. Was passiert ist, dass viele User, denen offensichtlich der Zugang zu Fotografie fehlt, statt der Bilder sie als Objekt ihrer Begierde beurteilen. Dabei verwechseln sie Insta mit Tinder. Sorry, nicht meine Welt, nicht in meinem Interesse. Warum soll ich außerdem Bilder auf einer Plattform präsentieren, deren „Gemeinschaftsstandards“ Nacktheit mit Pornografie gleichsetzen? Andere Plattformen sind gerade in den Schlagzeilen, weil sie die Bilder ihrer User als Trainingsmaterial an KI-Generatoren verscherbeln. Ich will keinem zu nahe treten, aber so dringend brauche ich keine Aufmerksamkeit für meine Bilder, dass ich mich darauf einlassen möchte. Die einzige Plattform, auf der ich Bilder online veröffentliche, ist strkng.com. Hier geht es nicht um Masse, sondern ich muss auswählen, was ich zeige. Ich sehe nicht, von wem Likes kommen, es gibt daher auch keine Gefälligkeiten. Integrierte Tools erlauben mir, Fotos Social Media-gerecht mit halb-transparenten Balken zu kaschieren, was User aber ausblenden können. Diese Plattform kann ich daher gerade für Nudes nur wärmstens empfehlen. Aber auch hier werden Bilder abgeschöpft und tauschen an Stellen wieder auf, die überraschen. Ich finde das nicht unproblematisch, denn auch für das Modell ist der Kontext einer Veröffentlichung nicht ganz unwichtig.

In meinem eigenen Magazin meine Fotos zu veröffentlichen, ist aus sicher nachvollziehbaren Gründen für mich ein No Go. Umso mehr freue ich mich, wenn andere Magazine meine Bilder präsentieren, denn anders, als man erwarten könnte, ist es unter Magazinmachern eher unüblich, Bilder von Kollegen zu zeigen. Ich bin den Blattmachern, die meinen Arbeiten Raum geschenkt haben, daher aufrichtig dankbar!

Fotobücher bieten natürlich einen wesentlich weiteren Rahmen zur Bildpräsentation. Wie der Regisseur bei einem Film bieten sie dem Fotografen die Möglichkeit, seine Arbeiten zu inszenieren, wobei die Abfolge der Bilder und deren Abbildungsgröße entscheidenden Einfluss auf die Wirkung haben. Fotografie ist ein Medium aus der Gutenberg-Galaxis der auf Papier gedruckten Information. Ein Buch ist eine gedruckte Ausstellung. Ein gut gemachter Bildband ist Multiple Art. Oder frei nach Karin Rehn-Kaufmann von Leica: Nur ein gedrucktes Bild ist ein Foto, der Rest bleibt ein Datensatz.

Das ist ein starkes Bekenntnis zum gedruckten Werk. Aber zuvor fängt es ja mit den Gedanken daran an. Wenn ich mit Menschen in der Fotobuchszene spreche, finde ich in den Extremen zwei Denkrichtungen: Einerseits ein sehr konzeptioneller Ansatz mit gezielter fotografischer Umsetzung und andererseits eine eher intuitive Fotografie auf deren Basis das Buch gestaltet wird. D.h. einmal sind die Fotos das Ergebnis eines Konzepts und andererseits die Ausgangsbasis konzeptioneller Überlegungen. Bewegt sich die Fotobuchgestaltung zwischen diesen beiden Extremen oder wie siehst du das?

Die Gestaltung eines Bildbands ist zunächst einmal unabhängig von der konzeptionellen Basis des Inhalts. Reden wir erst einmal über die Gestaltung. Bildbände sind eine Abfolge von Doppelseiten. Um hier Spannung reinzubringen, braucht es die richtige Bildauswahl, aber auch die Abfolge und Zusammenstellung der Fotos ist wichtig, ebenso wie deren Abbildungsgröße. All das entscheidet darüber, ob es den Betrachter interessiert oder langweilt. Wichtig zu verstehen ist, dass ein Betrachter im Gegensatz zum Fotograf den Kontext der Bildentstehung nicht kennt und es ihm daher herzlich egal ist, ob Bilder, die in einem Buch aufeinandertreffen, einen Entstehungszusammenhang haben oder nicht. Kontrast in der formalen und inhaltlichen Abfolge sorgt für Spannung, Gleichförmigkeit wirkt oft langweilig. Nicht umsonst gibt es Editing-Workshops, in denen genau das von erfahrenen Gestaltern vermittelt wird. Weniger ist oft mehr.

Die Frage, was zuerst da war, das Konzept oder die Bilder, ist ansonsten sehr deutsch. Ich persönlich sehe immer mehr Projekte, bei denen ein Fotograf sich ein vermeintlich relevantes Thema sucht und das dann mit Fotos illustriert. Gute Bilder sucht man da meist vergeblich, weil formale Fragen aufgrund dieser Herangehensweise kaum noch eine Rolle zu spielen scheinen. Die wiederum machen aber oft den entscheidenden Unterschied. Fotografie ist ein visuelles Medium und ein gutes Bild sollte meiner Meinung nach losgelöst vom Kontext seiner Entstehung Aufmerksamkeit binden können.

Und was waren deine Gedanken vor deinem bzw. eurem Buch?

Als Magazinmacher mit jahrzehntelanger Erfahrung lag es für mich nahe, einen Bildband zusammen zu stellen. Herausgekommen ist ein Foto- und kein Sachbuch. Insgesamt war es eine interessante Erfahrung, die eigenen Bilder als Buch herauszubringen. Fotos in einer Ausstellung zu präsentieren und als Print anzubieten finde ich aber ehrlich gesagt befriedigender.

Gab es beim Buchediting auch Erkenntnisse, die deine Fotografie verändert haben? Fotografierst du zum Beispiel stärker buchorientiert?

Ganz und gar nicht. Oder doch … für einen Bildband braucht es immer auch Bilder, die für sich allein gesehen nicht funktionieren würde, aber im Kontext andere Bilder auf eine Art und Weise flankieren, die diese erst richtig zur Geltung bringt. Beischüsse vom Set oder der Location sind extrem wichtig, weil sie beim Editing und im Layout wichtige Elemente sind, sozusagen die Beilagen zum Hauptgericht, deren Aromen eine Wechselwirkung erzeugen.

Kannst du noch etwas zu deinen Gestaltungsgrundsätzen für das Buch sagen? D.h. warum ist es so geworden, wie es geworden ist bezüglich Größe, Bildanordnung, Umfang etc. Stand das vorab fest oder hast du angefangen und gesehen, wie es sich entwickelt?

Ein Buch ist, wie so vieles im Leben, ein Kompromiss. Neben inhaltlichen Aspekten spielen dabei formale Fragen eine wichtige Rolle. Das fängt schon bei der Wahl des Papiers an. Matt oder glänzend? Welche Grammatur? Wie soll die Oberfläche beschaffen sein? Für die Haptik spielt auch der Einband eine Rolle. Ebenso die Bindung. Es gibt da wunderbare Möglichkeiten. Aber über den Verkaufserfolg entscheidet auch der Preis. Kleine Auflagen bedeuten eigentlich immer hohe Stückpreise in der Produktion. Das führt dann automatisch zu Kompromissen bei der Gestaltung und der Ausstattung, selbst wenn man  - so wie ich - ausschließlich auf Direktvertrieb setzt, um die Handelsspanne einzusparen, die bei Amazon bei 60% liegt. Theoretisch stehen ja längst Printing-on-Demand-Konzepte zur Verfügung, aber hier liegt der Stückpreis im Vergleich zum Auflagedruck extrem hoch, so dass es sich lohnt, hierfür ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen. Aber selbst eine Kleinstauflage von 300 Exemplaren wie in meinem Fall muss erst einmal verkauft werden, darüber sollte man sich im Klaren sein. Wer sich mit Vermarktungskonzepten nicht auskennt, sollte die Finger von Fotobüchern lassen oder sie einfach nur für sich und ein paar Freunde in einigen, wenigen Exemplaren erstellen. Ich zitiere die Fotobuch-Expertin Alexa Becker: There is no money in photo books!

Was war die größte Herausforderung bei deinem Buchprojekt?

Wenigstens kein Geld dabei zu verlieren, zumindest die Produktionskosten sollten wieder reinkommen. Da die aufgrund der kleinen Auflage von 300 Exemplaren bei knapp der Hälfte des Verkaufspreises lagen, war schnell klar, dass das nur im Direktvertrieb funktionieren würde. Da ich keine Follower auf Social Media habe, brauchte ich klassische Veröffentlichungen und Präsenz auf Ausstellungen. Die für die Buchpromotion erstellte Webseite habe ich zwischenzeitlich abgeschaltet, weil sie nach dem Abverkauf der Auflage innerhalb der letzten drei Jahre ihren Zweck erfüllt hatte, aber auch hier habe ich nur das Buch, nicht aber die enthaltenen Bilder gezeigt. Ziel war, Neugierde auf den Inhalt zu wecken. Das ist gelungen. Insgesamt eine interessante Erfahrung, die ich so aber glaube ich nicht wiederholen werde, denn zwischenzeitlich hat sich eine für mich interessante, neue Möglichkeit ergeben, Fotobücher ohne eigene, finanzielle Vorleistung verlegen zu lassen.

Verrätst Du uns mehr dazu?

Ich will hier ja keine Werbung machen, aber wer ein Fotobuchprojekt plant, sollte sich u.a. den Anbieter Snapcollective anschauen. Das ist ein innovativer Verlag, der Bildbände unter der Voraussetzung herausbringt, dass sich in der Vorverkaufsphase mindestens 25 Besteller finden. Die Druck- und Papierqualität ist ebenso ordentlich wie die Verarbeitung, der Verlag hat einen Onlineshop und berät auch bei der Erstellung, wenn das gewünscht ist. Klar, als Honorar gibt es lediglich Freiexemplare, aber man hat auch null Risiko und das Buch ist Teil eines Verlagsprogramms inklusive ISBN-Nummer.

Wie siehst du allgemein die Zukunft des Fotobuchs?

Parallel zur Anzahl der Neuerscheinungen sinken die Auflagen. Durch die Zugänglichkeit dank neuer Produktionsmethoden wie Digitaldruck ist die Schwelle extrem tief, die man überwinden muss, um ein Fotobuch herauszubringen. Um aus der Masse kleinstauflagiger Titel herauszuragen, braucht man vor allem ein Vermarktungskonzept, sonst bleibt man stolzer Besitzer seines Bildbandes. Diese Erfahrung machen immer mehr Selbst-Verleger, die diese Szene beherrschen. Selbst Verlagstitel verkaufen sich größtenteils nur schleppend, was auch mit der Krise des inhabergeführten Buchhandels zu tun hat, der sich speziellere Titel ins Regal stellt. Verlage wälzen das Produktionskostenrisiko in der Regel auf den Fotografen ab, der das vorfinanzieren darf und dafür ein paar hundert Bücher bekommt. Den Rest der Auflage vermarktet der Verlag, so dass der Fotograf seine Exemplare eigentlich nur als Visitenkarte für sich und seine Arbeiten verwenden kann. Das ist vollkommen ok, wenn man sich vorher darüber klar ist. Letztlich wird das Fotobuch weiter das Ziel vieler Fotografen bleiben, denn es ist eine eigentlich unverzichtbare Möglichkeit zur Präsentation.

Was macht ein Fotobuch bestenfalls mit dem Autor bzw. der Autorin?  Was sind die größten Herausforderungen aber auch positiven persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten?   

Im besten Fall bringt es neben Ruhm und Ehre auch Einnahmen und rechnet sich, aber wie beschrieben, das gelingt nur den Wenigsten. Selbst Fotografen mit zehntausenden Instagram-Followern tun sich schwer mit der Vermarktung ihrer Bildbände. Daher setzen immer mehr auf eine Vorfinanzierung über Crowdfunding.

Unabhängig von diesen wirtschaftlichen Aspekten kann ein Bildband aber eine befriedigende und damit auf anderer Ebene lohnende Sache sein. Es gibt einem Projekt eine Form. Der Auswahlprozess und die Gestaltung intensivieren die Reflexion des eigenen Schaffens. Buchpublikationen sind immer auch gut für die eigene Reputation, und das ganz unabhängig von deren Auflage.

Welche Fotobücher gehören zu deinen Lieblingsbüchern? Und warum?

Ich habe eine sehr umfangreiche Fotobuchsammlung und meine Favoriten wechseln. Es fällt mir daher nicht leicht, hier schnell eine Antwort zu finden, es gibt einfach zu viele wichtige Fotobücher. Aktuell sind meine persönlichen Favoriten Eye of Love von René Groebli und In my Room von Saul Leiter, beide mit sehr authentischen und intimen Bildern aus den 50er Jahren, die heute noch extrem zeitgemäß wirken und weit sehenswerter sind, als vieles auf einschlägigen Online-Plattformen.

Bislang hatten wir ja über Bilder gesprochen, die in einem fotografischen Prozess entstanden sind, also mit Licht. Auch wenn Bilder in der digitalen und analogen Fotografie schon immer technisch verändert werden konnten: Wie ist dein Blick auf  Bilder, die mit künstlicher Intelligenz (KI) produziert wurden? Müssen wir Bilder künftig anders betrachten? Und was könnten die Konsequenzen in der Fotokunst sein?

Die Risiken und Chancen von KI-Bildgeneratoren beschäftigen die Fotoszene ja erst seit 2022. Ich war Mit-Autor des Positionspapiers des Deutschen Fotorats dazu im letzen Jahr und finde, dass dieses Statement immer noch aktuell ist (https://deutscher-fotorat.de/2023/04/20/positionsbestimmung-zu-ki-bildgeneratoren/): Generative KI eröffnet neue Möglichkeiten zur Erweiterung des kreativen Spektrums. Allerdings wird sie auch gravierende ökonomische Umwälzungen in der Kreativbranche mit sich bringen und kann eine ernste Gefahr für den demokratischen Gesellschaftsdiskurs bedeuten.

Längst überfluten synthetisch erzeugte Bilder, die den Anschein machen, fotografiert worden zu sein, die Netzwerke. Nur die schlecht gemachten KI-Bilder sind erkennbar. Eine ausführliche Antwort auf Deine Frage nach den Konsequenzen würde den Rahmen unseres Interviews sprengen. Daher gehe ich hier nur auf die für die Fotokunst ein. Hier ist der Einsatz von KI-Bildgeneratoren vergleichsweise unproblematisch, solange die Bilder nicht den Anschein von Dokumentarfotografie erwecken und so als Fakenews missbraucht werden können. Die Kunst ist frei, auch in der Wahl ihrer Mittel. Allerdings ist fraglich, ob der Anteil menschlicher Schöpfung an generierten Bildern hoch genug ist, um die Voraussetzung für den Schutz der Urheberrechts zu erbringen. Hier kommt es sicher auf den Einzelfall an. Aber egal, ob ein Bild fotografiert oder generiert wird, man muss es vorher im Kopf haben. Ohne eine Vision kann man nicht prompten, und noch braucht man Vorwissen, um zum Ziel zu kommen.

Welche Bereiche der Fotografie dürften durch KI besonders stark verändert werden und welche eher weniger?

Wir werden eine Flut an Fakenews erleben, gegen die sich große Nachrichtenagenturen längst wappnen. Komplett verändern wird sich die Produktion von Bildern für Werbung und Marketing, denn hier wird sicher ein großer Teil zukünftig ganz oder zumindest teilweise generiert, was nichts Neues ist, jetzt aber vergleichsweise schneller und einfacher geht. Was sicher bleibt ist die Fotografie von Events, um Erinnerungen festzuhalten und das Geschehene zu dokumentieren.

Du bist Vorsitzender der Sektion Kunst, Markt & Recht der Deutschen Gesellschaft für Photographie, DGPh. Welchen Status hat Fotografie am Kunstmarkt?

Die Fotografie ist mit einem Anteil von unter 4 Prozent am Kunstmarkt insgesamt eine kleine, aber stabile Nische. Der Umsatzanteil bei Auktionen liegt immerhin bei rund zehn Prozent. Mehr als die Hälfte aller Arbeiten liegt preislich allerdings unter 1.500 Euro. Fotografie ermöglicht damit nicht nur Sammlern mit kleinem Budget den Einstieg, sondern auch den Zugang zu Werken, die in Sammlungen von Museen zu finden sind, denn vor den 70er, 80er Jahren waren Editionen noch unüblich. Von einigen Bildern sind über Jahrzehnte Prints entstanden, weshalb sg. Vintage-Prints höher bewertet werden. Wer sich als Fotograf ernsthaft am Kunstmarkt positionieren will, braucht eine klare Strategie, denn auch hier gelten Regeln, die man kennen sollte.

Welche Veränderungen erwartest du neben den Konsequenzen für Berufsfotografen für die Fotoindustrie und Fotozeitschriften?

Da wirfst Du mehrere Problemfelder in einen Topf, die da eigentlich nicht hineingehören. Ich versuche mal, das zu differenzieren.

Die Fotoindustrie hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten einen Rückgang bei Kamera- und Objektivverkäufen in Höhe von rund 90% erlitten, was vor allem daran liegt, dass die sogenannte Alltagsfotografie längst mit dem Smartphone erledigt wird. Foto-Equipment ist zum Luxus-Nischenmarkt geworden, denn weggebrochene Umsätze kompensieren die Hersteller mit massiv gestiegenen Durchschnittspreisen. Die kann sich vor allem die viel gescholtene Generation der Boomer leisten, die auch die Leser von Fotozeitschriften stellt. Die leiden weniger unter KI, als vielmehr an den Folgen des Medienwandels, der durch die Pandemie beschleunigt worden ist. Influencer werden von Jüngeren als authentischer wahrgenommen als klassische Medien. Jetzt bekommen Influencer durch KI-Avatare Konkurrenz und die Revolution frisst ihre Kinder.

Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für Berufsfotografen. Durch den Medienwandel sind in der Werbung Bewegtbilder längst wichtiger als Fotos. Influencer bieten neben der Medialeistung auch gleich die Contentproduktion. Die Cleveren unter den Werbefotografen produzieren Social Media Content für ihre Kunden, statt weiter auf klassische Werbejobs zu warten. Von den über vier Milliarden neuen Produktbildern, die jedes Jahr im E-Commerce gebraucht werden, wird ein immer größerer Anteil generiert, der Rest vollautomatisch fotografiert. Was im Moment noch Märkte für Berufsfotografen sind, ist einerseits der Bereich der Corporate-Porträts, denn auch das mittlere Management lokaler Mittelständler möchte gut aussehen. Andererseits sind Hochzeitsfotografen seit Jahren die mit den höchsten Tagessätzen, aber auch sie müssen längst schon Videos und nicht „nur“ Fotos abliefern. Die Zeiten, als Fotografen mit ihrer Bildsprache ein Markenimage prägten, sind vorbei.

Was bleibt, ist rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung, dass eine echte Passion für die Fotografie hat, in Deutschland also eine Kernzielgruppe von rund 830.000 Menschen. Zu denen gehörst Du und auch ich sowie alle, die gerade dieses Interview lesen.

Erste Kamerahersteller stellen Content Credential-Lösungen zur Verfügung, mit denen die fotografische (d.h. nicht KI-basierte) Entstehung eines Fotos nachgewiesen werden soll. Für den Fotojournalismus liegt so etwas sicherlich auf der Hand. Werden wir darüber hinaus Bilder künftig danach beurteilen, ob es sich um Fotos oder KI-generierte Datensätze handelt und uns das nachweisen lassen? In welche Richtung wird das führen?

Die Content Authenticity Initiative leistet hier gute Arbeit und Content Credentials werden in der bildjournalistischen Dokumentarfotografie zur harten Währung in Sachen Glaubwürdigkeit, denn von der leben Nachrichtenagenturen und Medien gleichermaßen.

Wie die auf gefakte Bilder reagieren, zeigte jüngst deren Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem offensichtlich manipulierten Familienbild von Prinzessin Kate mit ihren Kindern. Via „Kill Notice“ wurde das Bild zurückgerufen sowie eigene Fehler offengelegt und korrigiert. Social Media Plattformen wollen KI-generierten Content automatisch identifizieren und kennzeichnen, denn für uns alle besteht natürlich die reale Gefahr, durch Fake News manipuliert zu werden. Wie jeder Einzelne mit den Möglichkeiten von KI bei seinen eigenen Bildern im Privaten umgeht, ist dagegen gesellschaftlich vergleichsweise irrelevant, aber der Rest von Authentizitäts-Anmutung fotografischer Bilder ist verloren.

Gleichzeitig kann man die Milliarden Fotos, die vor dem Jahr Null der Einführung von Content Credentials entstanden sind, ja nicht unter den Generalverdacht der Fälschung stellen. Es wird also kompliziert …

Wie siehst du den Trend zur Wiederentdeckung der analogen Fotografie in den letzten Jahren? Welche kulturellen Strömungen haben das begünstigt und wie nachhaltig dürfte das sein.

Ich war Initiator des Antrags des Deutschen Fotorats, die analoge Fotografie als immaterielles Kulturgut durch die UNESCO anerkennen zu lassen. Die erste Hürde haben wir genommen. In NRW wird die analoge Fotografie in das entsprechende Landesregister aufgenommen und für die Eintragung in das entsprechende Verzeichnis der Bundesrepublik nominiert. Ziel ist, die Weitergabe entsprechenden Wissens sicher zu stellen.

Ansonsten sehe ich den Trend zu analogen Fotoverfahren mit gemischten Gefühlen, denn der wird vor allem von jungen Leuten getragen, die, wie ich glaube, vermuten, dass die Qualität klassischer Fotografien mit deren Entstehungsprozess zu tun haben könnte. Die geben dann vergleichsweise viel Geld für Filme inklusive Entwicklungsgutschein aus, um statt der Negative dann nur Scans aus dem Labor geliefert zu bekommen. Diese Art von Hybrid-Workflow mag bequem und zeitgemäß sein, hat mit analoger Fotografie aber nur sehr bedingt zu tun. Analogfotografie ist eine Nische in der Nische. Einzige Ausnahme ist die Sofortbildfotografie. Die meist verkaufte Kameramarke ist Fujifilm INSTAX, rund 80% der Käufer sind junge Frauen.

Du bist Chairman der Technical Image Press Association, die einmal im Jahr die Fotoprodukte des Jahres wählt. Echte Innovationen werden aber seltener, oder?

„Es ist eine Illusion, dass Fotos mit der Kamera gemacht werden… sie werden mit dem Auge, dem Herz und dem Kopf gemacht“ hat Henri Cartier-Bresson gesagt, und er hatte recht. Dennoch haben Kameras für Fotografen die Bedeutung von Musikinstrumenten für Musiker. Und nur, wer sie beherrscht, wird es zu Exzellenz bringen. Die wichtigste Innovation der letzten 12 Monate war zweifellos die Einführung des Global Shutters durch Sony, ein Feature, dass sich durchsetzen wird.

Nach so vielen und spannenden Themen in der Fotografie würde ich gern auf dich als Mensch zu sprechen kommen. Wie bist du zur Fotografie gekommen und wie wurde diese zu deiner Profession?

Das lief so wie bei vielen: ich wurde schon als Kind mit dem Fotofieber infiziert. Die Frage, was ein gutes Foto ist, verfolgt mich seit den Tagen, als ich meine Ausbeute mit meinem Vater sichtete. Der hat mir später abgeraten, die in seinen Augen „brotlose Kunst“ der Fotografie zu meinem Beruf zu machen und ich habe mich gerächt, indem ich statt dessen den Beruf des Fotofachjournalisten ergriffen habe. Später hat er mich enterbt, aber das ist ein anderes Thema. Die Frauen, die Liebe und der Suff …

Was machst du privat gern, wenn du nicht als als Fotograf, Publizist oder anderweitig beruflich aktiv bist?

Ich bin von Natur aus neugierig und kann mich für viele Dinge begeistern. Nach einer Lebensphase, in der wir intensiv in der internationalen Classic Car-Szene unterwegs waren, widmen wir uns aktuell dem Entertainment unserer beiden englischen Pointer mit allem, was damit zusammen hängt. Ansonsten empfinde ich alles, was mit Fotografie zu tun hat, tatsächlich nicht als Arbeit, sondern als Vergnügen.

Thomas, herzlichen Dank für das Interview und die tiefen Einblicke. Möchtest du zum Schluss noch etwas sagen?

Ich danke Dir für Dein Interesse an mir und meiner Fotografie, lieber Thomas, eine Leidenschaft, die wir mit vielen Menschen teilen. Wir alle wohnen im großen Haus der Fotografie, und das hat viele Räume, in denen unterschiedliche Wahrheiten gelten. Alles, was ich hier zu sagen hatte, gilt in meinem Raum und muss daher nicht gleichzeitig in allen anderen Gültigkeit haben …

Thomas Gerwers ist mit seinen Arbeiten zu finden u.a. auf der Fotoplattform STRKNG.  Er ist Herausgeber des Magazins ProfiFoto und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie e.V. (DGPh). Feedback zum Interview ist hier willkommen.

Zu den im Interview angesprochenen Thema Instax bzw. Sofortbildfotografie befindet sich ist als ergändende Information der Artikel “Polaroid Passion?” auf diesem Blog.