"Fotografie hat mich gelehrt, Dinge zu sehen, die ich sonst nicht gesehen hätte." - Manfred Zollner im Gespräch mit Thomas Berlin
Thomas Berlin: Manfred, bevor wir gleich über Fotografie sprechen, würde ich gern darauf eingehen, aus welcher Perspektive du in diesem Interview auf die Fotografie blickst. Du bist Chefredakteur des fotoMAGAZIN, eines der großen und etablierten Magazine. Kannst du kurz beschreiben, wie dein Job aussieht und was die wichtigsten Dinge sind, mit denen du dich beschäftigst?
Manfred Zollner: Am wichtigsten ist es für mich und die fotoMAGAZIN-Redaktion, Inhalte zu produzieren, die unsere Leserschaft monatlich (Heft) und täglich (Website/ Social Media) ansprechen. Dabei möchten wir den Lesern Lust auf das Abenteuer Fotografie machen – in den Bereichen Bild, Praxis und Technik.
Auf der Bildebene versuchen wir, quer durch die Fotogenres Reportagen, Interviews und herausragende Portfolios zu den wichtigsten Themen der Zeit zu bringen. Idealerweise lesen sie darüber zuerst bei uns.
Thomas Berlin: Was ist eigentlich ein gutes Foto?
Manfred Zollner: Für mich zeigt ein gutes Foto im besten Fall eine neue Sicht auf ein Sujet. Dabei sollten eben keine Stereotypen und Klischees kopiert werden, sonst ist es eben doch im Zweifel vielleicht nur ein handwerklich gutes Foto. Wenn wir ehrlich sind, dann ist allzu oft einfach das abgebildete Sujet gut und hübsch und ein Foto profitiert ausschließlich davon.
Thomas Berlin: Und was ist interessantes Foto?
Manfred Zollner: Ein interessantes Bild macht einen bleibenden, nachhaltigen Eindruck und beschäftigt mich im Idealfall nach der ersten Betrachtung weiter. Der Begriff „interessant“ wird natürlich überstrapaziert. Dennoch: ein gutes Bild muss für mich auch in der Lage sein, mein Interesse zu wecken.
Thomas Berlin: Braucht ein Foto eine Aussage?
Manfred Zollner: Eine sehr gute, berechtigte Frage. Entscheidend bleibt hier immer letztlich die Interpretation des Betrachters, wenn ihm keine Erklärung zum Bild vorliegt.
Jeder Betrachter interpretiert ein Bild vor seinem individuellen Erfahrungshintergrund. Deshalb wird es oft nicht identisch interpretiert. Nehmen wir beispielsweise nonfigurative Fotografie mit reinen Farbfeldern, auf die wir emotional reagieren. Das kann durchaus auch eine gewisse Wertigkeit bekommen. Relevant ist ein Bild also immer zunächst in einem persönlichen Bezugsrahmen.
Thomas Berlin: Wann ist ein Foto Kunst?
Manfred Zollner: Mir gefällt die Erklärung, ein Foto sei Kunst, wenn es unseren Erfahrungshorizont erweitert – und dabei einen eigenen Weg beschreitet. Auf intellektueller und/oder emotionaler Ebene. Diese Interpretation ist tatsächlich sehr weit gefasst. Damit könnten bei mir selbst einige nie zuvor gesehene NASA-Bilder von Mars in diese Kategorie fallen. Für mich ist es jedenfalls nicht nötig, dass sich der Fotograf als Künstler bezeichnet.
Thomas Berlin: Ist es für dich bzw. deine Auseinandersetzung mit Bildern überhaupt relevant, ob ein Foto Kunst ist?
Manfred Zollner: Nein, denn dieses Schubladendenken bringe ich nicht mit. Kunst liegt für mich wie gesagt im Auge des Betrachters. Und aus professioneller Sicht muss ich ohnehin sagen, dass ich kein Kunstmagazin mache. Die Bilder im fotoMAGAZIN können Kunst sein – aber das ist nicht das notwendige Auswahl-Kriterium. Wenn ich Bilder sehe, die ich tatsächlich noch nie gesehen habe, dann können diese natürlich für eine Veröffentlichung interessant sein.
Thomas Berlin: Was braucht es, um ein Bild zu genießen? Muss es ein Print sein, braucht es eine gewisse Größe? Oder was ist sonst noch wichtig?
Manfred Zollner: Derart absolut lässt sich das nicht beantworten. Ich kann selbst ein gutes Bild in schlechter Printqualität genießen. Allerdings bin ich tatsächlich ein Liebhaber von guten Fine Art-Prints und alten Drucktechniken, die manchen Aufnahmen noch einmal eine persönliche Note geben und ihre Aussage verstärken.
Die Größe eines Bildes hängt vom Motiv ab. „Bigger is better“ stimmt definitiv nicht immer. Momentan schätze ich kleine, intime Formate sehr, die mich bei manchen Genres zwingen, nahe ranzugehen. Was es sonst noch braucht, ist gutes Licht im Raum und Museumsglas, das Reflektionen verhindert.
Thomas Berlin: Ist der aktuelle analoge Trend ein vorübergehender Hype oder nachhaltig? Und ist die digitale oder analoge Herkunft eines Bildes überhaupt wichtig?"
Manfred Zollner: Für einen vorübergehenden Hype hält der Trend zum Analogen bereits viel zu lange an. Das Thema ist durchaus vielschichtig! Es gibt viele Gründe für das gegenwärtige Interesse. Und dass wird im Nischenbereich sicher nachhaltig bleiben.
Unter anderem spricht das Analoge, diese haptisch „begreifbare“ Fotografie auch junge Menschen an, die vom Digitalen kommen und nun eine entschleunigte Fotografie für sich entdecken – mit dem ganzen Zauber im Rotlichtmilieu des eigenen Fotolabors. Zudem verspricht uns das Analoge in einer Zeit schlummernder Datensätze im Nirvana unseres Computers weiter wunderbare Unikate. Wenn ich ein gutes Bild an der Wand sehe, ist mir dessen analoge oder digitale Herkunft zunächst egal. Sie wird jedoch unmittelbar wichtig, wenn beispielsweise dessen Herstellungsprozess analog war (Wet Plate, Cyaonotypie, etc.) und dadurch ein Unikat entstanden ist.
Thomas Berlin: Wieviele Bilder musst du sehen, um einen Fotografen oder eine Fotografin einzuschätzen?
Manfred Zollner: Ich möchte das nicht in Zahlen bemessen, denn Kreativität ist nicht automatisch derart festzulegen. Ein gutes Einzelbild mag allerdings jedem Fotografen mal gelingen. Um eine persönliche Handschrift zu erkennen und einen eigenen fotografischen Ansatz, sind definitiv mehr Aufnahmen nötig. Dann ist es auch spannend, zu sehen, ob eine Begabung für das „Visual Storytelling“ erkennbar ist und ob der gewählte ästhetische Ansatz zu einem Thema passt. Zudem macht es einen Unterschied, ob ich nur unzusammenhängende Einzelbilder vorfinde, oder ob es etwas Verbindendes zu erkennen gibt.
Thomas Berlin: Neben der Redaktionsarbeit suchst du nach Talenten, teilweise auf internationalen Fotofestivals, und veröffentlichst ausgewählte Portfolien. Wie kann man sich diese Tätigkeit vorstellen?
Manfred Zollner: Sehr viele unserer veröffentlichten Portfolios habe ich bei Portfolio Reviews im Ausland gefunden. Derzeit finden derlei Reviews via Zoom statt.
Ich kann durchaus stolz sagen, dass fotoMAGAZIN so manche Fotografen erstmals veröffentlicht hat, die heute internationale Stars sind. Fotografen wie den Amerikaner Jeffrey Milstein. Festivals im In- und Ausland sind wichtige Kontaktbörsen, hier lassen sich auch immer aktuelle Bildertrends erkennen und Erstkontakte zu jungen Fotografen aufbauen.
Thomas Berlin: Was hat es mit Jeffrey Milstein auf sich?
Manfred Zollner: Das aktuellste Beispiel ist tatsächlich Jeffrey Milstein, dessen „AirCraft“-Fotos wir vor vielen Jahren als Portfolio veröffentlicht haben. In unserer April-Ausgabe haben wir ein aktuelles Portfolio seiner Paris-Aerials veröffentlicht, die er gerade in einem Bildband bei Rizzoli Press publiziert. Milstein ist heute weltweit mit seinen Bildern in Museen und wird international von Galerien vertreten.
Thomas Berlin: Kannst du neben Jeffrey Milstein ein weitere Beispiel geben, wie eine deiner "Entdeckungen" über die Jahre einen sehr erfolgreichen Weg gegangen ist?
Manfred Zollner: Davon gibt es tatsächlich unendlich viele. Manche habe ich (wie die Bildjournalisten Enno Kapitza und Mathias Ziegler) bereits in den 1990er-Jahren als Studenten an der Münchner Fotoschule „entdeckt“ und veröffentlicht.
Thomas Berlin: Als wir uns zuletzt getroffen hatten, kamst du gerade von einer Portfolio-Review, bei der du als Gutachter warst. Wie läuft so eine Review ab?
Manfred Zollner: Normalerweise haben die Fotografen 20-30 Minuten Zeit, ihre Werke während einer Review zu präsentieren. Wie dies geschieht, hängt von der Intention der jeweiligen Bildermacher ab. Manche suchen lediglich Hilfe beim Aufbau eines Portfolios, Unterstützung bei der Herangehensweise an ihre Arbeit. Andere stellen ein komplett fertiges Projekt vor und suchen Beratung für die weitere Vermarktung. Und natürlich sind die meisten an Veröffentlichungen im fotoMAGAZIN interessiert.
Thomas Berlin: Was können die Fotografen bei einer Review erwarten?
Manfred Zollner: Auf jeden Fall eine Einordung ihrer Arbeit und ihrer Qualität und oft wichtige Entscheidungshilfen. Ich kann ambitionierten Bildermachern auf jeden Fall diese Portfolio Reviews empfehlen. Im Gespräch über ihre Bilder lernen sie fast immer dazu. Für talentierte Fotografen sind Reviews ein wichtiger Schritt bei der internationalen Bildvermarktung.
Fotografen müssen nicht unbedingt bei den berühmtesten Reviews der Welt (Arles, Madrid und Houston) vorstellig werden. Oft gibt es mittlerweile auch in Deutschland Reviews. Dort sammeln Fotografen erste Erfahrungen und wenn sie ein wirklich starkes Portfolio besitzen, dann sollten sie überlegen, wen Sie ansprechen wollen: Galeristen, Fotobuchverleger, Kuratoren, Redakteure von Zeitschriften.
Thomas Berlin: Welche historischen Fotografen inspirieren dich?
Manfred Zollner: Jacques-Henri Lartigue, Samuel Bourne, André Kertész, Robert Doisneau, Man Ray, Brassai, Walker Evans, Dorothea Lange, August Sander, Tina Modotti. Ich könnte diese Liste noch lange fortführen.
Thomas Berlin: Und wie sieht es mit zeitgenössischen Fotografen aus, wen beobachtest du mit besonderen Interesse?
Manfred Zollner: Pieter Hugo, Vivianne Sassen, Mona Kuhn, Martin Bogren, Nanna Heimann, Andreas H. Bitesnich, Anders Petersen, Roger Ballen, Pentti Sammalahti.
Thomas Berlin: Muss ein Fotograf ein klares "Profil" bzw. eine Handschrift haben, um Erfolg zuhaben?
Manfred Zollner: Ein eignes Profil ist mehr als hilfreich, um in der heutigen Bilderflut aufzufallen. Leider reicht heute manchmal auch bereits ein prominenter Name, wie bei der Tochter von Paul McCartney oder dem Sohn von David & Victoria Beckham, um Erfolg als Fotograf zu haben; weil „Erfolg“ im kommerziellen Sinne manchmal an der Anzahl von Followern in den Social Media gemessen wird – die Werbeauftrage mit sich bringen.
Thomas Berlin: Wie siehst du die Chancen junger, künstlerisch orientierter Fotografen, die ihre Bilder eines Tages in Galerien sehen und verkaufen wollen? Worauf kommt es besonders an?
Manfred Zollner: Es gibt kein Patentrezept, sonst wären alle erfolgreich und würden es umsetzen. Der Markt der Fotogalerien ist nicht erst seit Corona in der Krise. Nicht jeder, der dort ausstellt, verkauft auch automatisch seine Werke. Es kommt insbesondere bei amerikanischen Galeristen immer öfter darauf an, ob sich ein Künstler selbst gut vermarkten kann, im Gespräch mit den Kunden bei der Vernissage seine Story zum Bild gut verkauft. Auch hier gilt: eine Generalisierung wäre falsch. Ein guter Galerist mit Renommee mag einem Fotografen bessere Vermarktungschancen geben. Also ist die Wahl des Galeristen ganz entscheidend. Und die Preisfindung für die eigenen Werke!
Thomas Berlin: Was bedeutet Fotografie für dich über den Job hinaus?
Manfred Zollner: Fotografie ist auch neben dem Job ein wichtiger Teil meines Lebens. Sie hat mich gelehrt, Dinge zu sehen, die ich sonst vielleicht nicht gesehen hätte. Und sie lehrt mich, genauer auf das Leben zu schauen und die kleinen Dinge am Rande zu beachten. Selbst das vorausschauende Denken beim Motivaufbau ist sehr hilfreich beim Blick in den Alltag. Ich betrachte es als großes Privileg, dass ich zudem einen Beruf habe, der mir diese Welt ständig öffnet.
Thomas Berlin: Wie und wann bist du eigentlich zur Fotografie gekommen? Fotografierst du auch selbst?
Manfred Zollner: Ich habe mir als Student der Kommunikationswissenschaft bereits Geld als Konzertfotograf verdient und in meinem Nebenfach Amerikanistik Kurse zur amerikanischen Fotografiegeschichte belegt. In dieser Zeit begann ich, Fotobücher zu sammeln.
Nach dem Uni-Abschluss arbeitete ich zunächst als Filmjournalist und die Fotografie war zwischenzeitlich nur ein Hobby. Mit dem Redakteursjob bei einer Fotozeitschrift wechselte ich das Medium. Und ja: Natürlich fotografiere ich noch selbst.
Thomas Berlin: Was machst du neben der Fotografie gern?
Manfred Zollner: Mein generelles Interesse an der Kultur ist geblieben. Ich genieße insbesondere weiter den Film, die Architektur und die Musik.
Thomas Berlin: Manfred, herzlichen Dank für das Interview.